CHRISTOPHER MULLER

self

February 9 – March 20, 2015

Christopher Muller hat sich in seinem photographischen Werk vorwiegend mit Dingen beschäftigt, die uns im Alltag umgeben. Er hat davon abgesehen, aus welchen Produktionsprozessen und in welchen wirtschaftlich sozialen Strukturen sie entstanden sind, welchem sozialen Milieu sie zuzuordnen und welche möglichen subjektiven Obsessionen sich mit ihnen verbinden. Da es sich um Gebrauchsgegenstände handelt, stehen für uns in unserem Verhältnis zu ihnen ihre Funktion im Vordergrund. Ihre formalen Qualitäten und ihre Beziehungen untereinander werden von uns leicht übersehen. Muller hat die Dinge stattdessen neutral im Hinblick auf ihr bloßes Dasein betrachtet und sie in ihrer realen Größe zur Darstellung gebracht. Dabei richtet er sein Augenmerk darauf, wie gehen wir mit den Dingen um, welche anderen Sichtweisen auf Dinge sind möglich und was blenden wir aus. Er hat überdies danach gefragt, wie wir mit Dingen unseren Lebensraum strukturieren und welche Zeitschichten, d.h. welches Stück unserer Lebensgeschichte sich in solchen Strukturen jeweils sedimentiert hat.
Mullers photographischer Zugriff auf Dinge hat mehrere Werkphasen durchlaufen. Diese betrafen sowohl eine unterschiedliche Behandlung der Dinge in ihrem Zusammen wie auch eine unterschiedliche mediale Umgangsweise. Muller hat mit Dingarrangements und auch mit vorgefundenen Konstellationen gearbeitet. Er hat zuerst die Dinge frontal vor einer Wand photographiert und damit einen fast unphotographischen, statischen Eindruck erzeugt. Später hat er zunehmend mit Perspektivverschiebungen gearbeitet und den Blickpunkt subjektiviert. Er hat die Mittel des Bildausschnittes, des Anschneidens von Dingen am Bildrand, der Fokussierung als thematischen Bestandteil in seine Arbeiten eingebaut. Immer jedoch hat er das Bild in seiner materiellen Konsistenz als Resultat der Belichtungen eines mechanischen Apparates und eines chemisches Produktionsprozesses erzeugen lassen.
In seiner neuen Ausstellung zeigt er nun zum ersten Mal malerische Arbeiten. Auch diese Arbeiten beschäftigen sich mit Dingen. Ihnen haben sich aber auch die Glieder seines eigenen Körpers zugesellt. Mit der Einbringung des eigenen Körpers wird aber unser Verhältnis zu den Dingen in einer grundlegend anderen Weise beleuchtet. Denn nicht nur kommt der eigene Körper jetzt als direkter Bestandteil der Bilder ins Spiel, sondern die Bilder selber sind durch die Feinmotorik dieses Körpers erzeugt worden. Um diesen doppelten Zugriff auf sich selbst in einen intimen Dialog einzubinden, hat Muller einen neuen Bildraum entwickelt. Diesen Bildraum kann man als unmittelbaren Nahraum bezeichnen. In diesem Nahraum der direkten Körperumgebung ist der eigene Körper Betrachtungsgegenstand und Akteur in dem doppelten Sinne, dass er in diesen Nahraum hineingreift und dass er den Nahraum malerisch gestaltet. Dies hat auch Konsequenzen für den Bildraum, denn dieser ist nicht wie sonst ein losgelöster eigener Raum, sondern an den eigenen Körper gebunden. Die Perspektive auf diesen Raum ist von niemand anderem als nur von mir selbst einnehmbar. Sie ist nicht austauschbar. Jede minimale Bewegung oder Platzierung des eigenen Körpers akzentuiert den Bildraum anders. Stützt sich der eigene Fuß auf, oder halte ich ihn schwebend, schiebt er sich an den anderen heran oder lässt er eine Lücke? Fokussiere ich mit meinem Kopf und meinen Augen mittig oder zur Seite, schaue ich nach vorne oder an mir herunter? Es kommt zu paradoxen Überschneidungen: während die rechte Hand in ihrer Feinmotorik auf dem Papier gestaltet, ist die linke Hand in der spürbaren unmittelbaren Nachbarschaft der Betrachtungsgegenstand. Der Körper betreibt hier ein Gespräch mit sich als Objekt, welches er untersucht, mit sich als Akteur, welcher diesen Raum zentriert und gestaltet, und mit sich als Sensorium, welches auf den Umraum abstrahlt und aus welchem es seine Empfindungen empfängt. Auch wenn kein eigenes Körperteil sichtbar ist, fühlen sich die Dinge auf Mullers Aquarellen so an, als würde wir sie unsichtbar berühren und stünden mit ihnen in einer unmittelbaren Verbindung.
Dass wir uns selbst in ganz unterschiedlicher Weise ansprechen können, liegt an den vielen Stationen unserer persönlichen Geschichte, an den Möglichkeiten unterschiedlicher sozialer Einbindungen, aber auch an den verschiedenen Weisen, uns von unserer Umgebung abzusondern oder uns mit ihr zu identifizieren. Unsere ersten Schritte in der Welt geschehen in diesem unmittelbaren Nahraum, sie markieren den Beginn der Unterscheidungen zwischen uns und den Dingen. Mullers Arbeiten machen deutlich, dass wir in unserem Leben diese Unterscheidungen immer wieder anders wenden und dass zur täglichen Erfahrung gehört, uns in der immer wieder zu erreichenden Balance von Zuversicht und Verzagtheit, Aufnahmefähigkeit und Verschlossenheit in diesem Umraum zu platzieren.
Der Nahraum radikalisiert die Ambivalenz scheinbar eindeutiger Zuordnungen. Zwar lernen wir schnell zu unterscheiden, was den Dingen und was mir selbst in meiner Umgebung zuzurechnen ist. Dennoch scheinen wir täglich durch Selbstberührungen, Beobachtungen, wechselnde Stimmungen uns dem jeweils neu auszubalancierenden Kräfteverhältnis des Um-uns-Herums stellen zu müssen.
Wie gehört das vor mir ausgestreckte rosaviolettfarbene Gebilde, der Fuß, heute zu mir, sachlich als ein Beobachtungsobjekt, emotional als wohlwollend angesehenes Körperteil, subjektiv als beförderndes oder bremsendes Vehikel meines Weltausgreifens? Spüre ich durch den Fuß den kühlen Fußboden oder den weicheren Stoff des Stuhles, strömt mir von dort Behaglichkeit entgegen? In unserem Nahraum sind mir die Dinge unvollständig gegeben. Ich nehme den Fußboden nicht als Ganzes, sondern nur Aspekte von ihm wahr: seine Glätte, sein Musterung, seine Wärme, seine Lichtabstrahlung, den unmittelbar vor mir liegenden Bereich für meinen nächsten Schritt. Man kann Dinge in einen neutralen Beschreibungsrahmen versetzen, im Nahraum aber sind sie unauflöslich mit meinem Schicksal verbunden und gleichzeitig ich mit ihrem. In diesem temperierten Dialog finden sich immer wieder andere Gewichtungen über Hervorzuhebendes oder Nebensächliches, über Zusammenhänge oder zu Unterscheidendes, über mir wohlwollend oder nachteilig ‚Gesinntes’.
Um den Nahraum in dieser Pointierung zu beschreiben, hat sich Muller mit einer Maltechnik befasst, die ein besonderes Geschick verlangt, die eigene Motorik gegen die Unwägbarkeiten des Materials durchzusetzen, das Aquarell. Die aquarellierende Maltechnik muss mit der selbstständigen Ausbreitung des Wassers und auch der dadurch bedingten Erscheinungsweise der Farbpigmente zurechtkommen. Zugleich aber ist Wasser ein Medium, welches unserem inneren Körpergefühl und den taktilen Qualitäten der Haut sehr nah ist.
In der Addition von kleineren oder größeren Wasserflecken ist der Zugriff auf die dinglichen Ganzheiten unserer Welt ein indirekter. Denn die Ganzheiten werden hier nicht durch direkte Setzung sondern nur additiv und häufig nur suggestiv gegeben. Das Auge spielt in der sinnlichen Ausdeutung der ‚Wasserinseln’ eine bewusst aktive Rolle. Die detailgenaue Nachzeichnung oder Abbildung von Dingen auf der zweidimensionalen Fläche kann hier ebenso wenig Ziel sein, wie eine minutiöse Nachzeichnung der Festigkeit und Statik der Welt. In dem losen Verbund eines geschichteten, fluidalen Gewebes kommen andere Gewichtungen ins Spiel. Das Aquarell ist prädestiniert dazu, die dinglich begriffliche Interpretation von Welt beiseite zu legen und den Möglichkeiten eines entdeckenden subjektiven Zugriffs breiten Raum zu geben.
Zarte Kräfte bestimmen Mullers Farbverlaufsgewebe. Die Form eines Flecks orientiert sich immer in eine Polarität von Richtungen, für die jeweils zu entscheiden ist, was gegen die Kanten stößt, ob Gegenflecken die Kraft aufnehmen, fortführen, bremsen oder umlenken. Hinzu kommen die Entscheidungen über die Intensität bzw. Dichte der überlagernden Farbschichten, welche die Kräfte modellieren und die Entscheidungen über den Grad an Transparenzen. Im Aquarell ist die Welt durchscheinend. Dies hat vor allem damit zu tun, dass das ungetrübte Weiß des Papiers die hellste Schicht ist und dass die Pigmente der Farben im Wasser sich immer nur als feine Lasuren auf dem Papier ablagern. Je genauer ein Ding oder Körperteil innerhalb des Bildes ausformuliert wird, desto mehr geht die Transparenz und der suggestive Zusammenhang verloren. Je transparenter desto leichter, offener oder freier die dingliche Deutung. Insofern ist jedes Blatt ein komplexer Dialog von dinglichen Begrenzungen und zugleich Öffnungen auf den Umraum, von subjektiven Durchdringungen, Freistellungen, Dynamisierungen, Ablösungen. Ein Bein aus meinem Nahraum zu aquarellieren heißt denn auch, sich von der Vorstellung eines fertigen Dinges zu verabschieden. Das Bein wächst schrittweise in einem festzulegenden Rhythmus von Schichten und Verläufen und es muss mit seiner Nachbarschaft zusammenstimmen, es wächst nur im Dialog zu dieser Nachbarschaft. Darin sind viele Entscheidungen einbegriffen, welche mit den stimmungsmäßigen Deu-tungen der eigenen sensitiven Befindlichkeit und ihrer Reichweite zu tun haben.
Mullers neue malerische Arbeiten führen uns an den Anfang zurück. Wie entdecken wir uns jeden Tag neu, wenn wir unsere Fühler in die Welt ausstrecken und versuchen, die Welt aufzugreifen? Unser basales Selbst ist das sinnliche Erfassen und Sich-Einrichten in Situationen, in denen Selbst und Welt zusammenfinden müssen. In unserem Nahraum wird daher nicht nur verhandelt, wie der Motor unseres Bewegungsverhaltens, das Bein aussieht oder wie der Motor unseres Handelns, unsere Hände beschaffen sind, sondern wie wir unsere Spielräume aufbauen, uns erarbeiten und uns in ihnen einfinden. Das Zu-mir-selbst-Finden und das Mit-mir-zurecht-Kommen innerhalb meiner Umraumberührungen, die Konstitution meines intimen Umfeldes liegt den zarten Wassergeweben Mullers zugrunde.

Christopher Muller’s photographic oeuvre has focused on things that surround us in everyday life. Since these are mostly objects of daily use we tend to concentrate on their function and easily overlook their formal qualities and their interrelationships, which are precisely the aspects that Muller has chosen to highlight. How we literally and metaphorically handle things, how things might be interpreted and which possibilities we tend to subconsciously ignore. Furthermore, he has asked questions as to how we use things to structure our domestic space and what time layers, i.e. how much of our lives, are concealed in such structures.
Muller’s photographic work has undergone several phases. This can be seen in his different treatment of object groupings and his changing approach to the medium. Muller has photographed arrangements of objects as well as found constellations. He has photographed objects frontally against a wall to create a static impression and from various angles. At first glance his early pictorial approach appears more neutral than the subjective viewpoint in his later works. He has increasingly incorporated devices such as perspectival alignment, cropping, framing and focus. Materially however, his pictures have always been a chemical product resulting from an exposure by a mechanical apparatus.
In his new exhibition he is showing paintings for the first time. These works also deal with objects but have been joined, for the first time, by his limbs. By incorporating his own body he is fundamentally shifting our relationship to things. Not only is the body engaged as a pictorial element, the pictures themselves are produced by the body’s fine motor skills. Muller has developed a new pictorial space to interlink this doubly accessed self, which can be described as the immediate vicinity. Viewed within its immediate vicinity the body becomes both an object and an active agent in two senses, extending out into the space while also painting it. This has consequences for the pictorial space which is no longer separate and independent but linked to the body leading to paradoxical doublings: while the fine motor skills of the right hand compose the image, the left hand is positioned adjacent to the viewed object. The body is conducting a dialogue with itself as an object to be examined, as an active agent that extends outwards and as a sensorium that interacts with and also registers its environment. All objects in Muller’s watercolours seem tangibly present even when no body parts are depicted.
We see ourselves very differently depending on our changing personal situations, possibilities created by social interaction and the various ways in which we detach ourselves from or identify with our environment. Our first tentative steps in this world are spent distinguishing ourselves from other things in the immediate vicinity. Muller’s works clearly state that such distinctions undergo subtle shifts throughout our lives and that redefining the balance between confidence and withdrawal, receptiveness and diffidence is a daily experience.
The immediate vicinity radicalizes the ambivalence of apparently unambiguous properties. We may learn to correctly attribute a thing to ourselves or to something else in our environment. Nevertheless we seem to need to redefine ourselves daily in terms of the shifting power balance in our surroundings through touch, observation and changing moods.
In what sense does the outstretched pink- and purple-coloured formation in front of me, the foot, really belong to me: matter-of-factly as something I can observe, emotionally as a benign and integral part of my body, subjectively as a vehicle for moving or braking on my way through the world. Does the foot enable me to feel the cool floor or the softer fabric of the chair; does a sense of comfort emanate from it? Things are incomplete in our immediate vicinity. I don’t perceive the floor in its entirety, only certain aspects: its smoothness, its pattern, its warmth, how it reflects light, the area directly in front of me awaiting my next step. One can place things in a neutral descriptive frame but in the immediate vicinity they are inseparably linked to my fate and I to theirs. In this tempered dialogue the emphases regarding priorities or minutiae, correspondences or distinctions is forever shifting.
In order to describe the immediate vicinity in an adequately differentiated way, Muller has explored a painting technique that demands a special aptitude in order for fine motor skills to prevail over the material’s incalculability: the watercolour. Watercolour technique must cope with the dispersion of water and the associated appearance of colour pigments. Furthermore water as a medium is closely related to our sense of our body’s insides and the tactile qualities of our skin.
The addition of smaller and larger water spots only refers indirectly to our world of material entities. Complete entities are not directly transcribed but derived additively and frequently only hinted at. The eye consciously plays an active role in interpreting the “water islands”. Muller’s goal is neither a precise and detailed drawing or representation of things on a two dimensional plane, nor the meticulous rendering of solidity and statics. Other priorities are required to resolve the loose and fluid texture. The watercolour is predestined to relinquish a material conceptual interpretation of the world and give free rein to the possibilities of an explorative, subjective approach.
Delicate forces dominate Muller’s tapestry of colour washes. The shape of a spot is always orientated in a polarity of directions, determined by what pushes against the edges of the spot and whether counter-spots take on the force, continue, stop or divert it. In addition choices are made regarding the intensity or density of the overlapping layers of colour, which texture the force, and the degree of transparency. In a watercolour the world seems to shimmer through. This is primarily due to the unadulterated white of the paper being the lightest layer and the soluble colour pigments drying as fine translucent layers over it. How clearly an object or a body part is formulated is largely determined by the degree of transparency. The more transparent, the lighter, the more open and freer and less fixed the denotation. In this respect, each sheet is a complex dialogue between the limited incursion of things and the simultaneous opening up of the environment to subjective penetration, isolation, dynamism and detachment. Painting a watercolour of a leg in my immediate vicinity means bidding farewell to a preconceived idea of a final version of things. The leg grows step by step in a rhythm of layers and washes and it has to fit its neighbourhood: it can only grow in conjunction with its neighbourhood. This involves making choices similar to those involved in the subjective interpretation of ones own sensitivities and their scope.
Muller’s new works return us to the beginning. How can we rediscover ourselves every day anew when we stretch out our feelers and attempt to take in the world? Our basal self appraises and adjusts to situations in which we and the world must come together. In our immediate vicinity we are not simply attempting to describe what the leg, our means of transport, looks like or how our means of action, our hands, are physically constituted but how we construct a room for manoeuvre, establish our identities and how the former can accommodate the latter. Finding oneself and coming to terms with oneself within a particular environment are at the heart of Muller’s delicate water tapestries.

Installation Views

 

Installationviews Hengesbach Gallery, 2015