Parallaxis

Christof John

March 1 – April 29, 2022

Unser Auge ist ein paradoxes Sinnesorgan. Einerseits gewährt es uns ein ganzes Feld gleichzeitiger Empfindungen, für welches die Sinneszellen unsere Netzhaut verantwortlich sind. Andererseits vollführt unser Augenmuskel ständig Bewegungen, um das Auge an den Fokuspunkt intensivster Wahrnehmung im Zentrum der Netzhaut zu lenken, von dem wir uns besondere Aufklärung versprechen. Unser Gehirn muss folglich mit einem ununterbrochenen Wechsel von Netzhauteindrücken fertig werden und in diesem Wechsel Einsichten zu gewinnen suchen.
Beim Betrachten eines Bildes als einer klar begrenzten Fläche werden beide Aspekte besonders herausgefordert. Auf der Fläche heben sich unterschiedliche visuelle Markierungen hervor. Versuchen wir uns einen Überblick zu verschaffen, so konzentrieren wir uns auf die Eigenschaft unseres Sehens, alle Netzhautinformationen gleichgegenwärtig auszuwerten. Wollen wir aber genauer wissen, in welchem Verhältnis einzelne visuelle Markierungen zueinander stehen, setzen wir unseren Augenmuskel in Bewegung und lenken das Zentrum der Netzhaut zum Punkt unseres Interesses. Bei einem künstlerischen Bild sind die visuellen Markierungen in einem mitunter lange dauernden Prozess des Entscheidens und Abwägens in ein komplexes Verhältnis gesetzt: wie, mit welchen Mitteln welche Farbe an welcher Stelle im Bild aufgetragen und an die anderen Farben angepasst wird, wird im künstlerischen Prozess der Erarbeitung des Bildes immer wieder geändert. Das Auge des Betrachters ist dann dazu aufgerufen, dem fertigen Bild die Entscheidungen der Verhältnissetzungen der visuellen Markierungen abzulesen. Jeder Künstler ist sich bewusst, welche Aufgabe er seinem Betrachter bei bestimmten Bildern überantwortet.
In der modernen Malerei ist dieser Prozess des Wahrnehmens und der Verantwortung in Bezug auf die angemessenen visuellen Rekonstruktionen zunehmend selber Thema von Bildern geworden. Dies kann soweit gehen, dass alles im Bild auf den Prüfstand gesetzt wird.
Christof Johns Bilder fordern beides heraus. Kann ich sie richtig ansehen, kann ich ihre visuelle Komplexität angemessen erkennen und gleichzeitig verstehen, was sie als ein neues Verständnis von ‚richtiger’ Malerei setzen wollen?
John nennt seine Ausstellung in Wuppertal Parallaxis. Parallaxis bedeutet, dass wir mit zwei Augen sehen und durch den Abstand der beiden Augen zwei leicht verschiedene Bilder erhalten. Von seinem ursprünglich griechischen Wortsinn bedeutet es, dass man etwas vertauscht oder verändert. Auf Christof Johns Bilder schauen heißt, mit einem unvermittelten Wechsel von geometrischen Strukturen und von Farben konfrontiert zu sein. Seine Bilder sind exakt, zugleich aber auch unscharf und mit bewussten Fehlern behaftet. Sie sind durchzogen von geometrischen Elementen, denen organisch weiche, zarte Farbflächen gegenüberstehen. Ihre wiederholt auftretenden geometrischen Strukturen, Gitter und Raster wirken extrovertiert. In ihnen kommt etwas von der künstlichen Ausgestaltung der Welt durch den Menschen zum Vorschein, man denke nur an Architektur oder die Liniensysteme unserer Infrastruktur aus der Vogelperspektive. Die zarte, feine Malweise strahlt dagegen etwas Introvertiertes aus.
Aber diese beiden Polen geben keinen Wahrnehmungszugang an die Hand, weil sie selbst für sich nicht homogen sind. Weder die weichen Farbflächen, noch die geometrischen Elemente bilden in sich einen Zusammenhang. Der mit den Bildern unvertraute Betrachter stellt die Vermutung auf, dass die Brüche in den Bildern durch ein Collageprinzip entstanden wären, dass aus unterschiedlichen graphischen Kontexten Material entnommen und zusammengeklebt worden wäre. Dieser Vermutung liegt die Erfahrung zugrunde, dass die Bilder jeden Anspruch der Malerei auf eine konstante homogene Bildfläche, auf eine konsistente Linienführung, auf einen Zusammenhang der Farben unterminieren und damit Malerei grundsätzlich infrage stellen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass Johns Malerei selbst diese Brüche und Umwendungen herstellt, dass Form und Farbe sich auf einer Bildebene befinden, auch wenn sie dort nicht als Zusammenhang wahrgenommen werden können.
Die Lesbarkeit von Linie und Bildkontur schränkt John durch Wiederholung und gleichzeitig Abwandlung, Veränderung in der Wiederholung ein, – dies unterscheidet ihn von der Op-Art. Die Lesbarkeit der malerischen Flächen unterminiert er durch die Zartheit und den unterschiedlichen Duktus seiner Malerei. In der Auseinandersetzung mit den zunächst beherrschenden geometrischen Clustern werden die Farbflächen als ein Hintergrundphänomen wahrgenommen, welches in den Bildern Transparenzebenen entstehen lassen, so dass die Farben wie verschiedene Ebenen von Schleiern wahrgenommen werden, die ihre Wirksamkeit je nach dem von unserem Augen erstellten Wahrnehmungskontext einbringen. Zusätzlich unterminiert John den Ort der Farbe, weil er sie nicht nur auf der Bildfläche, sondern auch am Rand des Bildträgers erscheinen lässt. Bei vielen Bildern gibt er die Suggestion einer sehr dünnen zerbrechlich glatten Bildfläche durch eine schmale seitlicher Kante vor, der ein robusterer, dickerer und gröberer Bildträger mit einer anderen Farbe seitlich antwortet und dadurch die Farbimpulse der Vordergrundfläche irritiert.
So stellt sich im Verlauf des mühevollen Wahrnehmens seiner Bilder heraus, dass keine einheitliche Ebene gegeben und selbst die beiden Kategorien von Farbfläche und Form sich nicht eindeutig unterscheiden lassen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein weiteres zentrales Konstruktionsprinzip der Bilder in Form unterschiedlicher Arten von Bewegungsimpulsen, zu welchen die Wahrnehmung aufgrund der visuellen Konstellation der Bilder veranlasst wird.
Eine Linie ist die Verbindung zwischen zwei Punkten. Es macht einen Unterschied, welchen Punkt das Auge als Ausgangspunkt benutzt, und wie es durch den Verlauf der Linie zu seiner eigenen Bewegung angeleitet wird. Ein Raster bildet ein homogenes Feld von Einheiten. Wird es aber von Linienelementen durchzogen, so verschwindet die Homogenität und es bilden sich Bereiche, die deutlicher im Vordergrund stehen als andere, weil das Auge durch die Linienführung unterschiedlich angeregt wird, durch das homogene Feld zu gleiten. Werden in dieses Feld noch Farbflächen oder Farbbahnen eingelassen, verstärken sich die Ungleichheiten, so dass man mitunter ‚Gletscherspalten’ in der Bildfläche aufbrechen spürt. John versteht es, all diese Irritationsmomente anzulegen und auszuloten. Dem Betrachter misslingt es selbst bei stärkster Anstrengung, all die Bestandteile deutlich auseinanderzuhalten, weil sein stillhaltendes, registrierendes Sehen sofort in einen Bewegungsbann hineingezogen wird und ein unaufhörliches springendes, nicht mehr zur Ruhe kommendes Sehen die Folge ist.
John arbeitet mit elementaren geometrischen Versatzstücken wie Dreieck, Kreis, Quadrat. Sie sind wie ein Buchstabenmaterial, welches vervielfältigt vorkommt, sich aber nicht zu neuen Figuren oder Wörtern zusammenzufügen scheint. Im Kontrast mit anderen geometrischen Elementen und im Übergreifen von Farbfeldern scheinen sich andeutungsweise Bildfiguren zu ergeben. Meint man eine Lesart gefunden zu haben, so ist diese nicht stabil, sondern kann jederzeit zerfallen, weil sich durch einen anderen Blickkontakt eine andere Lesart durchsetzen kann.
Im Wechsel von Vordringen, sich Herausschälen und Zurückweichen, Entziehen spielen die Schleier der Farbe ihr eigenes Spiel. Häufig gelingt es noch nicht einmal festzustellen, welche Farbe die dominante ist, weil je nach Lesart mal der eine, mal der andere Schleier eine Farbe als die präsentere anpreist. Diese Farbschleier binden jeweils bestimmte geometrische Formen, so dass sich die Form- und Farbsetzungen in einem permanenten Widerstreit befinden. Da John seine Farbe leicht und fast transparent aufträgt, wird dem Auge ein ständiges Neuordnen erleichtert. Je nach Abstand und Perpektivwinkel zum Bild ändert sich das Gewicht der einzelnen Farbe.
John benutzt leichte Abweichungen von der Orthogonalität und Rundungen als Suggestionen von Verschiebung. Der Betrachter ringt fortlaufend mit sich, wo denn der richtige Standpunkt und wo im Bild der Angelpunkt ist. Aber nicht nur die vielfältigen Beziehungen in der graphischen Anordnung, auch der Duktus der Farbe, die von weitem als homogen, von näherem aber in ihrem gemalten Duktus erscheint, bringt einen zusätzlichen Bewegungsdrive ins Bild. Auf die Härte der geometrisch linearen Form antwortet organisch sanftes Fließen und dieses Fließen liiert sich mit kleinen Fehlern der graphischen Formen, die darin ihre mechanisch repetitive Norm verlassen.
John benutzt als harte Kontrastmomente scharf gestochene Konturlinien, an denen der Helligkeitskontrast von Schwarz und Weiß umbricht. Das Auge ist geneigt, zunächst ihren Bewegungsvorgaben zu folgen. Diese sind aber nicht nur gerade, sondern auch gerundet, so dass das Auge zu zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten angeleitet wird.
Der menschlich aufrechte Gang erfordert ein fortwährendes schnelles Einregulieren von Vertikalem und Horizontalem. Für schräg verlaufende Linien brauchen wir länger zum Abschätzen ihrer Positionen. Zusätzlich nutzen Johns Bilder mitunter die Möglichkeit, ihren Außengrenzen statt der Rechtwinkligkeit eine eigene Form zu verleihen. Die Folge ist eine weitere Geschwindigkeitsvorgabe für das Sehen. Da Außenkanten vom Auge schneller registriert werden als innere Konturlinien, ergeben sich bei solchen Bildern weitere Differenzierungsmöglichkeiten.
Schließlich gibt es Geschwindigkeitsunterschiede im Auftragsverlauf der Farbe, je nachdem, wie flüssig sie ist, so dass auch über den Malvorgang andere Geschwindigkeitskomponenten ins Bild geraten. Macht man sich bewusst, dass jedes handgemalte Bild immer auch etwas über die Auftragsqualitäten und subjektiven Auftragsstimmungen seines Gemaltseins erzählt, so kommt zum Vorschein, dass in der Gegeneinanderführung der geometrischen Geschwindigkeiten und der Malgeschwindigkeiten und Malweise Johns Bilder eine Auseinandersetzung über Malerei führen. Legte eine erste äußerliche Betrachtungsweise als Motiv der Bilder eine Auseinandersetzung über die Möglichkeiten des Sehens mit seinen Irritationsmomenten nahe, so wird in der Reflexion auf die subjektiven Komponenten der Bilder offensichtlich, dass das Motiv in der Frage der Möglichkeiten des Malens selber liegt. Dies wird auch daran ersichtlich, dass die vielfach gerundeten Konturverläufe nicht einfach Hinweise auf geometrische Kreisformen, sondern zugleich auf kreisende Malbewegungsformen der Hand in einem gleichmäßigen Hin und Her sind und dass die optische Formation von mehreren zueinander parallelen schwarzen Linien wie eine weiche Modellbewegung der Haare eines großen Pinsels gelesen werden kann, man denke hier an die Malsimulationen mittels graphischer Comikformen bei Liechtenstein.
Die Bewegungsverschiebungen sind auch die Ursache dafür, dass aus der planen Flächigkeit einer geometrischen Anordnung eine unerklärliche Räumlichkeit entsteht. Der malerische Herstellungsprozess verlangt bei geometrischen Flächen mit harten Konturen ein schichtweises Auftragen durch wechselndes Abdecken von schon gemalten Flächen. Bei der Überlagerung von Strukturen versucht das Auge eine Entscheidung über das Vordere und das Hintere zu treffen. Johns dünn gemalte Flächen geben keinen Hinweis. Wird eine geometrische Formation in Richtung Figur gelesen, erscheint sie als Vordergrund und erhält einen körperlichen Bezug, obwohl keine Schatten ein Volumen modellieren. Treten die verschiedenen Schleier der Farbe hinzu, entwickelt sich eine freie Farbkörperlichkeit.
Johns Bilder suggerieren auf den ersten Blick technisch perfekte Bildmechaniken, bei näherer Betrachtung werden zahlreichen Fehler offensichtlich, die er bewusst einkalkuliert und die er im Malen sucht, um die Umwendungen in seiner Malerei nicht aus einer Konstruktion, sondern aus der Erfahrung mit Einstellungswechseln zu gewinnen. Nicht nur machen die Fehler das Nichtmechanische des Malens, sondern auch das Dialogische des Malprozesses in seiner Selbstbefragung offensichtlich.
Als Teil seines Malmaterials listet John auch den Bleistift auf, welcher in seinen feinen Linien die Vorgaben und die Abweichungen von dem ursprünglichen Plan erzählen und damit Hinweise auf veränderte Überlegungen und Reflexionen im Malvorgang geben kann. Das zarte Element der Bleistiftlinien und der dünne Auftrag der Farbe verweisen auf Dialogisches in seiner Malerei, welches nicht für eine konzeptuelle Systematik, sondern für den Gestus von Körperlichkeit steht. Diese führt den Betrachter nahe an das Bild und lässt anderes mitschwingen als die Kette von Konstruktionen und Dekonstruktionen, die in der Fernwirkung erlebt werden.
Mit ihrer durchschlagenden optischen Wirkung sind Johns Bilder dennoch nicht monumental, sondern bleiben an ein körperliches Maß – an den Formaten ablesbar – gebunden. Daher bleibt trotz des optischen Scheiterns eindeutiger Lesarten der menschliche Körper die Instanz, welche den Dialog über die Richtigkeit solcher Bilder in einem immer wieder erneut zu vollziehenden Annäherungsprozess führt.
Warum entstehen Johns Bilder? Hat in ihnen der Einfluss der Negativität in unserer gegenwärtigen Welt überhand genommen, muss auch noch die Interpretation unserer Bilder scheitern? Johns Bilder arbeiten mit der Erfahrung, dass sich strukturelle Prozesse in unserer Welt verselbstständigen. Zugleich gibt es aber in den Bildern Umwendungen, die nicht aus einem Plan heraus entstehen, sondern die die Möglichkeiten anderer Wahrnehmungssensibilitäten andeuten und die – wenn wir sie ergreifen – zu erstaunlichen Dehnungen in unserem körperlichen Verständnis führen. In der Folge der Kette der visuellen Dekonstruktionen ist das Weiterentwickeln von Möglichkeiten im Rahmen unseres Bemühens um unsere körperliche Integrität unsere einzige Rettung. Hierbei kommt es darauf an, dass die Befremdung über die Allmacht des scheinbar aus der Hand-Gegebenen weder zu einem Verzweifeln noch zu einer abblendenden Hybris führt. Das scheinbar Nichteinholbare liegt nicht im Horizont eines völligen Jenseits, sondern muss immer wieder als ein Sich-Entziehendes in unseren Horizont beziehungsweise an unsere Grenzen herangeholt werden.

Rolf Hengesbach