Christopher Muller
May 15 – June 30, 2017
Wir betreiben Fotografie, wenn wir ein Motiv oder einen Moment festhalten, etwas Besonderes in unserer Umgebung einfangen, uns einer Situation vergewissern oder mit unserer Umgebungswelt genauer in Kontakt kommen wollen. Wie werden aber aus unseren subjektiven fotografischen Notizen Bilder, die auch für Andere sinnvoll sind? Wie bringe ich meinen zufälligen Kontakt mit der Welt so in das allgemeine kulturelle Umfeld ein, dass er seine Zufälligkeit verliert und eine über seine Gültigkeit für mich hinausgehende, allgemeinere Qualität annimmt? Wir neigen dazu, dass entweder die Herausgehobenheit des Motivs oder der Konstellation, der besondere Moment oder die außergewöhnliche Erscheinungsweise die Fotografie nobilitiert und daraus ein bewahrenswertes Bild werden lässt. Ist aber diese Auslese nicht häufig nur einem guten Auge und günstigen Umständen zu verdanken und eben nicht bildnerischer Arbeit? Fotografie-Ausstellungen sind populär, weil sie spektakuläre Bilder zeigen, nicht aber weil sie durchgearbeitete Bilder präsentieren. Für letzteres besuchen wir lieber Malerei Ausstellungen. Das gemalte Bild ist nicht in einem Moment fertig, es erwächst aus unterschiedlichsten Arbeitsschritten.
Es kann nun auch Fotografie geben, bei welcher das Bild selbst zwar schnell gemacht ist, bei der aber alles, was auf dem Bild zu sehen ist, das Ergebnis eines länger währenden Arrangements des Motivs und einer länger währenden Studioarbeit an der Aufnahmesituation ist. Solche Art von Fotografie können wir als Stillleben bezeichnen. Hier bewegen sich die Dinge nicht, sowohl Arrangement als auch Aufnahmebedingungen werden immer wieder sorgfältiger Kontrolle unterwerfen.
Christopher Muller ist in den frühen Neunziger Jahren mit seinen fotografischen Arrangements von Alltagsdingen bekannt geworden. Sie zeigen unspektakuläre Dinge aus unserem Alltag in der Unscheinbarkeit ihres von uns übersehenen, sprechenden Miteinanders.
Da seine Motive in ihrer komplexen Reihung sich immer auch der Inspiration von gesehenen, zufälligen Konstellationen von Dingen in seinem Alltag verdankten, begleitete Muller seine Arbeit mit einem fotografischen Notizbuch, in welchem er auffällige Situationen festhielt. Der Begriff auffällig hatte für ihn allerdings einen anderen Klang und eine andere Dimension als für uns gewöhnliche Fotografieliebhaber. Auffällig für ihn war nicht das Spektakuläre, sondern das Normale, welches sich in seiner Normalität auszeichnet, indem es mitunter leicht aus der Reihe tanzt. Wir haben es in unserer alltäglichen Welt überall mit dem Nebeneinander von Dingen zu tun, die aus Gewohnheiten und geregelten Abläufen in dieses Nebeneinander geraten sind, welches nie bloß zufällig sondern immer Resultat von impliziten Ordnungen ist.
Einzelne seiner szenischen Dokumentationen haben Christopher Muller über Jahre nicht losgelassen und seine künstlerische Frage kreist nach wie vor um das Problem, welche Art von bildnerischer Arbeit er in diese fotografischen Notizen investieren kann, damit aus ihnen vollwertige Bilder werden, die mit der Zufälligkeit ihres Gefundenen so umgehen, dass diese Zufälligkeit, diese Kontingenz unseres Lebens selber zu einem sinnfälligen Moment des Bildes wird. Wie kann sich das leichte, schwankende aus der Reihe Tanzen des Alltäglichen, unser Eingefangensein in alltägliche Abläufe bildnerisch ausdrücken? Eine Möglichkeit wäre, dass man die fotografische Notiz manipuliert, Bildaspekte verstärkt oder ausmerzt oder neue Aspekte hinzufügt, um das Bild auf den Punkt zu bringen. Widerspricht man damit aber nicht dem Interesse am Gewöhnlichen? Man kann doch das Gewöhnliche nicht dadurch vertiefen, dass man ihm außergewöhnliche Aspekte hinzufügt oder dass man Nuancen verstärkt, denn das Gewöhnliche verliert hier seiner Eigenheit.
Durch die Arbeit an dem Werkkomplex seiner Collagen ergab sich für Muller die Idee, für seine fotografischen Notizen einen Partner zu suchen, der sich in seiner Normalität nicht von der Ausgangsnotiz unterscheidet. Hieraus entstand die Serie der Doppelbilder mit einem vertikalen Schnitt in der Mitte. Wie findet man nun für die fotografische Notiz von einer normalen Alltagssituation einen passenden Partner? Auf dem Heiratsmarkt mag es vielleicht gewisse Rezepte dafür geben, bei der Zusammenfügung zweier Bildwelten gibt es diese nicht. Intuitiv hat sich für Muller jedoch im Laufe der Zeit ein Rezept ergeben: die fotografischen Partner müssen unterschiedliche Wirklichkeitsräume beschreiben. Sie müssen analog zu der grammatischen Struktur unserer Sprache, bei der wir dem Verb, welches einen Zeit- bzw. Handlungsbezug markiert andere Elemente hinzufügen, welche eine Konstellation (Subjekt / Objekt / Adjektiv) benennen. Bei Muller zeigt nun der eine Bildteil einen flachen Reliefraum, in welchem die gegenständlichen Elemente handelnde Bewegungen andeuten, während der andere Bildteil Gegenstände oder Personen in der Konstellation eines stimmigen Miteinanders eingefroren hat. Muller fand überdies heraus, dass die beiden Bildteile aus einem ähnlich gelagerten Interesse an den Tiefenschichten des Alltäglichen hervorgegangen sein müssen, d. h. in seinem fotografischen Notizbuch zeitlich nicht zu weit voneinander entfernt sein durften und dass es jeweils abstrakter Bildelemente bedurfte, die beide Bildteile zu einem Verweisungsbezug zusammenschließen. Dies können bestimmte Farbgruppen sein, die sich vervollständigen oder Muster, die sich entsprechen oder Lichtwerte, die sich ergänzen.
Bei einem sprachlichen Satz sprechen wir davon, dass er dann wahr ist, wenn die zeitliche Komponente auf die Konstellation aus Gegenständen und Eigenschaften zutrifft. Auf die Zusammenfügung von unterschiedlichen Dokumentationen von Alltagssituationen können wir diese Sinnbildung nicht einfach übertragen. Es zeigt sich aber in der subtilen bildnerischen Arbeit von Muller, dass man das Alltägliche oder das Gewöhnliche doch verdichten kann ohne es aus seiner Alltäglichkeit herauszureißen und zu entblößen. Eine Konstellation wird auf ihre impliziten zeitlichen Sinn- bzw. Handlungsmomente dadurch befragt, dass ihr eine fotografische Notiz beigefügt wird, die mit ihrem viel flacheren räumlichen Gebilde greifbarere zeitliche Impulse setzt und auf die andere Seite überträgt.
Ich will dies an Beispielen verdeutlichen: ‚Interior Life’ ist ein Programmbild. Es zeigt auf der linken Seite den Blick in das Zimmer bzw. Studio eines Fotografen mit professionellem Equipment; Plattenkamera auf schwerem Stativ und Scheinwerfer. Daneben Wohnaccessoires, Kleidung, Bücher, Pflanze, Tasche. Das hintere Fenster ist mit einer Gardine behängt und dunkel, das Zimmer selbst künstlich erleuchtet. Leben und Arbeit gehen nahtlos ineinander über. Auf der rechten Seite eine sonnenbeschienene ältere Klinkerfassade mit Fenster, Rüschgardine, Puppendekor und Zimmerpflanze. Aus dieser kitschigen bürgerlichen Ordnung herausgerückt ist eine andere Ordnung, die auf Aktion hindeutet, eine Lederjacke – kurzfristig ausgezogen und am Hänger des Blendladens aufgehängt, eine schwarze Tasche und ein typischer Farblösungsmittelkanister mit rotem Griff. Die rote Farbe korrespondiert mit der roten Puppenmütze und mit dem Rot des Prittstiftes und der Ponalflasche auf der anderen Bildhälfte und schließt die beiden Hälften wie ein impliziter Kleber zusammen. Der rechte Bildteil gibt dem linken Bildteil das Handlungsmotiv vor: die fotografische Bewältigung der Reibung unterschiedlicher Ordnungen, die in unserem alltäglichen Leben zusammenstoßen.
‚Woman Resting’: Eine Frau sitzt im Schatten auf einem in den Tiefenraum sich erstreckenden sonnenbeschienenen Wiesen- und Ackerstück, ausruhend, entspannt, freudig gelöst. Ihr weißer Hut wird eingerahmt durch eine Vielfalt weißer Blüten eines frei in der Landschaft sich ausgesät habenden, emporgewachsenen Busches. Auf der linken Seite sieht man eine in der Mitte geknickte Wand, an der in verschiedene Richtungen gelehnt, drei Wanderstöcke und ein Rucksack ruhen. Sie stehen griffbereit und suggerieren eine jederzeit mögliche Abreise. Die Anzahl der Wanderstöcke verweist auf Gesellschaft. Sonne, Gelöstheit, offene Landschaft, Gesellschaft, ein Bildgefüge, welches unsere offenen Freiheitsmöglichkeiten andeutet.