Licht Farbe Körper

JOSEPH MARIONI

April 30 – August 18, 2023

Das englische Wort colour kommt vom lateinischen celare: verbergen. Die Römer glaubten, die Farbe verberge das darunter Befindliche. Im Gegensatz dazu fasst die europäische Bildtradition Farbe als ein Offenlegen auf. Anders als in den letzten Jahrhunderten hat sich jüngst der Fokus von dem Offenlegen von Sinngegebenheiten oder Erzählungen über die Welt verstärkt auf den Malakt selbst verschoben. New Yorker Maler haben seit den fünfziger Jahren die malerische Farbe (painted colour) nicht mehr als additive Setzung von Flecken, Feldern oder einzelnen Farbverläufen begriffen, sondern als Resultat einer Performance, eines Malprozesses, bei welchem in einem methodischen Zug das ganze Bildfeld erschlossen wird. Pollock eroberte mit körperlichen Gesten den Bildraum durch Rinnenlassen und Schleudern der Farbe, Morris Louis ließ vom Bildrand her unterschiedliche Buntfarben zu einer Farbwolke zusammenfließen, Rothko konzentrierte sich auf zwei oder drei Farben, die er in rechteckigen Feldern übereinander schweben und zum Rand hin atmen ließ, Newman dehnte die Farbe gegen eine subjektiv gezogene Grenze ungehemmt aus, Clifford Still trieb sie Stück für Stück zu dem oberen Rand. Joseph Marioni steht in dieser Tradition. Seine Offenlegung des Malaktes hat aber nicht nur den Anspruch, den Malakt selber transparent zu gestalten, sondern alles Sagbare in der Malerei auf einen Urgegensatz und zugleich eine Ureinheit zu verdichten: auf die von Lichthaftigkeit und malerischem Körper. Der malerische Körper ist ein Zusammenspiel von Pigment, fluidem Medium, in welchem das Pigment gebunden ist, und von der Trägerfläche, welche das Medium aufnimmt, aufsaugt, bindet, sich bedecken lässt. Marionis malerische Entwicklung ist daran ablesbar, wie er diese unterschiedlichen Faktoren zueinander entfaltet hat. Basis ist für ihn das einzelne Pigment, welches aus seinem materiellen Körper besteht. (Dieser Körper kann indirekt noch an den feinen Rinnspuren und Tropfen, welche sich an allen seinen Bildern finden, abgelesen werden.) Das Pigment wird in ein flüssiges Medium eingebunden, welches dem physischen Körper eine freie Ausbreitung ermöglicht. Diese ist ablesbar an dem Fließverhalten der Farbe auf der Fläche, besonders aber an den vier Rändern der Bilder, die bei Marioni jeweils unterschiedlich gestaltet sind. Die untere Bildkante macht mit ihren zarten Bildtropfen das Fließverhalten offensichtlich. Die rechte und die linke Bildkante in ihrer Unterschiedlichkeit adressieren nicht nur unser orientiertes Körpergefühl von rechts und links, sondern zugleich auch den sinnlich wahrnehmenden Kontakt mit der Welt, die über die Grenze unseres Körpers in uns eindringt. An der oberen Bildkante wird offensichtlich, dass Marioni die Farbe nicht wie Morris Louis an der Bildkante ansetzt, sondern sie bewusst malerisch zur Bildkante hoch führt. Die meisten seiner Bilder sind oben lichter oder heben sich dort von einem dunkleren Untergrund ab. Die gemalte Farbe ist bei Marioni also ein Erleben des Wechselspiels von ungehemmter Ausdehnung und Weite und zugleich eine Besinnung auf körperliche Grenze.
In seinem jüngeren Werk treibt er die Entmaterialisierung des Pigmentkörpers der Farbe weiter voran, indem er das Pigment in immer feinere Lasuren auflöst und die unerklärliche Reflexionskraft von Licht in den unterschiedlichen Farbwerten und übereinandergelagerten Schichten zu einer magischen sinnlichen Ausdruckskraft steigert. Anfangs ging es Marioni darum, Archetypen der Farbe nebeneinanderzustellen. Im Laufe seines inzwischen mehr als fünf Jahrzehnte umfassenden Schaffensprozesses aber ist er immer stärker daran interessiert, deutlich zu machen, dass die Farbarchetypen eine gemeinsame Grundlage haben in dem Beziehungskosmos der Farben und in dem Aussenden von Licht, das nur von unserem körperlichen Wahrnehmungsorganismus erfasst und aufgenommen werden kann. Die Farbe soll lichthaft strahlen, sie soll das Ganze des Erscheinens für unsere Empfindungsfähigkeit, für unseren Körper als eine Sinneskonzentration vereinen und gegenwärtig machen. Alles Sehen ist Reagieren auf Licht, Licht zerteilt sich in Farben. Wie aber die Farben in einer Überlagerung aus unterschiedlichen Farbwerten eine ganz unterschiedliche Lebendigkeit und ein unterschiedliches Strahlen miteinander entwickeln, dies ist weder über eine Addition noch eine Subtraktion von Lichtwellenlängen zu erklären, sondern stellt einen magischen Prozess dar, der sich nur aus einer langwierigen Ausbildung von Sensibilitäten für die Nuancierungen unseres Lebens erklären lässt. In jedem Farbtyp erscheinen indirekt in latenten Entgegensetzungen auch die anderen Farben. Aber wie diese feinen Beziehungen mit ihren ganz verschiedenen Anmutungen sich entfalten können, das wird in Marionis Bildern an den übereinandergelagerten Farbschichten zwar registrierbar, zugleich aber auch nicht fassbar. Das Resultat des Schichtens der Farbe ist ein körperlicher Prozess, der von uns Betrachtern aktiv mitvollzogen werden muss, indem wir die Farbe in ihrem ganzheitlichen Strahlen visuell und über die Offenporigkeit der Bildränder auch als Hautempfinden an und in unserem Körper spüren. Marionis Bilder sind Körperporträts des lichthaften Erscheinens der Welt, bei denen erzählerische Einzelheiten der Welt zugunsten des generellen Wunders der Sichtbarkeit überblendet werden. Die gegenständlichen Einzelheiten der Welt werden aufgelöst in dem Akt des Erfassens der Basis unseres Wahrnehmens. Der malerische Prozess schlägt um in eine Selbstdarstellung des Wahrnehmens. Ausgehend von dieser elementaren Vereinigung von Licht und Körper in der malerischen Darstellung wollen wir in unserer Ausstellung ein Beziehungsgeflecht entfalten, bei welchem der Gegensatz von Raum, Körper und Bildfläche wie aufgehoben erscheint. Anlässlich des 80. Geburtstags von Joseph Marioni präsentieren wir seine jüngsten Arbeiten, bei denen das Licht in seiner Malerei eine immer spirituellere und doch zugleich körperliche Form gefunden hat.

Rolf Hengesbach