Ulrich Wellmann
April 20 – July 9, 2021
Warum hinterfragen wir die Freiheit des Verlaufs einer Linie nicht, warum schätzen wir ihre Entstehung als ein zufälliges oder nebenbei entstehendes Ereignis ein, wo uns doch an der Freiheit unserer eigenen Bewegung so viel gelegen ist und eigentlich unsere ganze Körperspannung und Aufmerksamkeit auf das Gestalten einer einzigen Linie gerichtet sein kann? Warum befragen wir nicht das Zusammenfinden von Linien, ihren möglichen Dialog und ihre Abweichungen voneinander und warum übersehen wir bei einer Fülle von Linien den Umstand, dass mit ihnen ein neuer Grund gelegt sein kann?
Die einzelne Linie scheint einfach, flüchtig und belanglos zu sein und die Ansammlung von Linien ein willkürliches Spiel von Bewegungen, Richtungen und Formverläufen. Wie schräg oder steil wir aber den Stift für die Linie halten und wie wir mit dem Anpressdruck für die Linie umgehen, wie abgerieben oder angespitzt der Stift ist: von diesen Faktoren hängt die Ausdrucksgestalt der Linie ab. Für Ulrich Wellmann sind das Mit-, Zu- und Gegeneinander der Linienbewegungen, ihre Versammlung und ihr farbliches Zueinander Ausdruck konzentrierter Stimmungslagen, die höchste Aufmerksamkeit erfordern.
Die einzelne Linie, wie fein, zart, fast verschwindend oder wie kräftig, betont und fokussierend kann sie auftreten in dem zunächst freien und offenen Feld des unmarkierten Formats? Wie schnell oder langsam kann sie sich fortbewegen, nimmt sie einen geraden Verlauf oder beginnt sie sich zu drehen oder kurven, schlägt sie einen Haken oder macht sie eine Kehrtwendung? Bewegt sie sich zunächst in einer Schreibrichtung oder gegenläufig oder sucht sie das Unten oder Oben: dies alles eine ungeheure Vielzahl von Entscheidungen, die mit einer einzelnen Linie verbunden sind. Und wie viele Entscheidungen sind es, wenn mehrere Linien und unterschiedliche Farben dazukommen und die Linie nicht mehr gepflegt einzeln, sondern als eine Kaskade die Fläche durchpflügt.
Ulrich Wellmann hat sich erst jüngst wieder der Zeichnung zugewandt, nachdem er sich viele Jahre mit der Ölmalerei und dem Aquarell beschäftigt hat: beide in ihrer materialen Durcharbeitung gegensätzlich. Die Ölmalerei operiert mit der Zähigkeit der Farbe und fordert ständig eine Materialzufuhr. Die Materialmenge, die in einem Auftragsgang auf die Fläche gesetzt wird, ergibt sich aus der Breite des Pinsels und der Länge seiner Haare. Beim Aquarell bewegt sich der Pinsel fast widerstandslos auf der nassen, quellenden Fläche. Ist das ganze Papier befeuchtet worden, so ergibt sich nur eine beschränkte Kontrolle darüber, wohin die Pigmente gelenkt werden, welche Konturen durch die Spur des Pinsels entstehen und wie verdünnt sich das Pigment bei einer Pinselbewegung ausbreitet.
Die Buntstiftzeichnung hält demgegenüber eine Mitte. Ihre Strichführung ist leicht, kontrolliert, in ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewältigbar. Es stehen sofort eine sehr große Palette von Farben zur Verfügung, die nicht erst angerührt werden müssen, außerdem ist ein permanenter Materialfluss gegeben, so dass der Strich in seiner Spur nie abreißen muss.
Wellmann hat im letzten Jahr diese Öffnung an Möglichkeiten begeistert aufgenommen und für sich zum Ausdruck spontan artikulierter Gefühlslagen genutzt.
Beim Zeichnen kann er den Fokus auf die einzelne Linie legen, auf ihr Schicksal in den unterschiedlichen Richtungen, Wendungen, Drehungen, Nervositäten. Er kann sie einen nur kurzen oder auch einen sehr weiten Weg beschreiten lassen, so dass die Linie sich zu verlieren scheint. Hält die Linie ihren Weg bei all ihren Drehungen und Richtungsabweichungen? Findet sie zu sich selbst zurück oder wird der eigene Weg für sie so komplex, dass sie ihn nicht mehr zu erinnern vermag, dass sie in ihrem eigenen Dickicht zwar weiter voranschreitet, sich aber dabei mit sich selbst verspinnt?
Wellmann kann sich für die paarige Linie entscheiden, die Linie, die mit sich selbst zu sprechen anfängt oder die sich auf jemand Anderen bezieht, mit dem sie stückweise einen gemeinsamen Weg oder ein gemeinsames Gespräch sucht. Wie weit geht man parallel ein Stück des Weges, wie hebt man sich farblich voneinander ab oder markiert die eigene Differenz erst in der Abweichung vom Weg? Verlieren sich die beiden Linien nach ihren Weggabelungen aus den Augen oder finden sie wieder zusammen?
Bei fast allen Zeichnungen hat sich Wellmann für Linienbündel entschieden, für eine Schicksalsgemeinschaft zusammen gebundener Linien, die in annähernd die gleichen Richtungen strömen, aber auch die Möglichkeit von inneren Abweichungen offen halten. Es sind Bündel, die an beiden Enden gleichlang auslaufen und dabei fast zu einer Linie, zu einem Scharnier zusammenfinden und die zumeist nur in der Mitte als einzelne Linien sichtbar werden. Die Mitte der Linienbündel scheint wie durch die Gravitation nach unten gebogen zu sein. Wellmann hat diese Form in seinem Werk als eine Form des Lachens bezeichnet. Es ist eine geschwungene Form, die auf ein fiktives Zentrum, den Mittelpunkt des durch den Krümmungsschwung bezeichneten Radius verweist. Er liegt zumeist außerhalb des Blattes und könnte einen Hinweis auf unseren Betrachtungsstandpunkt darstellen. Es könnte sich aber auch um eine Erfahrung aus der Zirkuskuppel unseres Lebens handeln, bei der wir gar nicht mehr sehen, an welchem Punkt die Schwingungen des Artisten zusammengehalten werden.
Das Zentriertsein auf eine Mitte, das Sich-Ausspannen auf zwei Endpunkte kann eine Hindeutung auf menschliche Wahrnehmung sein, die grundsätzlich dual organisiert ist: Augen, Ohren, Nase und auch der Mund mit seinem Rechts und Links. Im Zulauf von seinen dualen Sensoren und Extremitäten auf eine körperliche Mitte entfaltet der Mensch sein Bewegen und Handeln. Es scheint, dass diese Form in Wellmanns Blättern mehr ist als ein Anklingenlassen von Heiterkeit. Sie stellt eine generelle Referenz auf die Situiertheit unseres Menschseins dar.
In manchen Blättern gibt es nicht nur eine, sondern mehrere solcher Schwingungsformen und man könnte einwenden, dass dies gegen eine solche Interpretation spräche. Kommen wir aber in jeder Situation immer mit uns überein, gibt es nicht Konstellationen, in denen wir verschiedene Gesichter zeigen, uns vervielfältigen müssen?
Augenfällig ist, dass die Setzung eines zeichnerischen Linienbündels sofort dazu auffordert, den Kontext daraufhin zu befragen, welchen Raum und welche Freiheit oder Beengtheit er der Schwingung zugesteht und dass ohne diese Kontextbefragung das Bündel in seiner Spezifität sich gar nicht artikulieren kann. Das Linienbündel transformiert also automatisch seine Umgebung zu einem zeichnerischen Grund, gegen den und in dem es heraussteht. Bei der einzelnen oder paarigen Linie war noch gar nicht klar, wie der zeichnerische Grund als die offene weiße Fläche sich zu einem Zeichengrund, zu einer strukturierten und markierten Fläche umformen wird. Genau dies aber ist die Konsequenz der Setzung von Linienbündeln, dass sie nach einer Deutungszuschiebung durch ihr Umfeld verlangt. Welches Schicksal, welche Bestimmung wächst dem Linienbündel zu? Ist es jedes Mal ein anderes Eintauchen oder Schweben oder Versinken der Linienbündel in einen verschieden gearteten zeichnerischen Grund, ein anderer Aufschluss über ihre Kräftigkeit, Dynamik, Spannung, Möglichkeiten?
Die Grammatik von Wellmanns Zeichnungen besteht also aus einer komplexen Verwobenheit von Einzellinie, Linienbündel und Liniengrund. Der Liniengrund kann mitunter auch zu einem Linienmeer werden, wenn sich die Einzellinie oder eine Vielzahl von Liniensträngen derart miteinander verweben, dass sich keine isolierten oder rhythmisierten Formgebilde mehr herausheben lassen. Wie behauptet sich die einzelne Linie oder das Linienbündel gegen ein solches Linienmeer, geht es darin unter, kann es überleben und auch wieder auftauchen? Was erwartet es, was hat es für ein Schicksal, wie bewegt es sich, wohin schwebt es? Wie geht es mit der ihm unterstellten Gravitation des Absinkens und zugleich Ausschwingens und Streckens um?
Das Wechselspiel der drei Ebenen von Linie, Bündel und Grund lässt die Frage aufkommen, wie konsistent sind einzelne Linie, Bündel, Grund? Zeigen uns Wellmanns Zeichnungen nicht stattdessen, dass diese Frage nur im Miteinander der drei Ebenen entschieden werden kann. Besteht nicht das Rätsel der Schöpfungsakte der Kunst gerade darin, dass es keine festen Maßstäbe für die Form gibt, dass es keine vereinzelt schöne Linie, kein konzentriertes Linienbündel und auch keinen vielschichtigen Grund für sich geben kann, sondern sich alles aneinander reiben muss, um dem komplizierten Verhältnis des Menschen zu seiner Welt Entsprechendes zur Seite zu stellen?
‚Leichter Wellengang’ beschreibt den Zustand eines Meeres, bei welchem der Mensch einen Gleichgewichtszustand zwischen dem schwingenden Auf und Ab des Meeres und seiner eigenen Bewegung erreichen kann. Übertragen auf die menschlichen Erfahrungen meint es das Geworfensein in die vielfältigsten Aktivitäten unseres weltlichen Miteinanders und unsere gleichzeitige Lebensbemühung, dabei den Kopf genügend hoch zu halten, um zufrieden mitzutreiben, nicht unterzugehen und einen Weg zu finden, den wir allerdings bei weiteren Wellengängen wieder verlieren können.
Rolf Hengesbach