Tristan Ulysses Hutgens
May 10 – July 29, 2022
In der zeitgenössischen Skulptur werden seit den sechziger Jahren vier neue Richtungen als Erweiterungen des klassischen bildhauerischen Schaffens entwickelt: im Rahmen der ‚Popart’ werden Dinge, die sich auf das alltägliche Umfeld beziehen, in ihrem Maßstab und ihrer Materialität verändert und zu reinen Oberflächen-Objekten modelliert, die durch das Hervorheben ihres Äußeren als Bilder für unser Konsumieren und unsere Alltagsfixierungen fungieren. In der zweiten Strömung werden alltägliche Gegenstände überhaupt nicht verändert, jedoch wird durch eine andere Kontextualisierung in Museen oder Kunstausstellungen unsere Sicht auf sie verschoben, man nennt sie ‚readymades’. Innerhalb der Minimal Art wurden industriell vorgefertigte Teile seriell in formale Beziehungsgefüge gesetzt, um so den Betrachter mit grundlegenden Maßsystemen im Erschließen seiner Umwelt zu konfrontieren. Bei der konzeptuellen Skulptur schließlich wird das komplexe Feld unserer dinglichen Erzeugnisse und Verrichtungen daraufhin ausgewählt, dass dingliche Attrappen erzeugt werden, die Perspektivverschiebungen und eine Umkehrung von Wissen nach sich ziehen.
Keiner dieser vier Richtungen lassen sich die bildhauerischen Werke von Tristan Ulysses Hutgens zuordnen. Er ist aber auch nicht als klassischer formmodellierender Bildhauer einzustufen. Zwar mögen sich bei einem ersten Blick auf seine Arbeiten die einen oder anderen Bezüge zum erweiterten Feld moderner Skulptur finden, diese erschließen aber nicht den Kern seines bildhauerischen Anliegens. Hutgens hegt eine grundlegende Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Wendung der Skulptur zu einer Auseinandersetzung mit dem Dinglichen. Stattdessen ist es sein Bestreben, unsere Hingebung ans Dingliche grundlegender zu hinterfragen. Er versucht dafür die Materialbasis des Dinglichen neu in den Blick zu nehmen und gleichzeitig unser implizites Selbstverständnis in der Handhabung von Materiellem, unsere weit in die Kulturgeschichte zurückreichenden Praktiken und Gewohnheiten im Verarbeiten des Materiellen bewusster in Augenschein zu nehmen, um darin auch die Wechselwirkung zwischen Materialverarbeitung und unserem körperlichen und energetischen Einsatz zu reflektieren.
Hutgens versucht also ein Befragen der Sedimentierungen unseres kulturellen Selbstverständnisses im Staunen darüber, was unsere Praktiken alles hervorbringen. Und weil er sich für solche Ursprünge interessiert, ist ihm das Aufsuchen des ‚Rohen’ und der zahlreichen Handhabungs- und Eingriffsmöglichkeiten wichtiger, als das Ergebnis des ‚Gekochten’ zu betrachten und abzuschmecken.
Betrachten wir die Skulptur ‚Imprint of.’ Es ist der Blei-Abguss von zwei ehemals leicht verschobenen Schaumstoffpolstern, auf denen eine runde, schwere Form gestanden und ihren Abdruck hinterlassen hat. Schaumstoff empfinden wir nicht als Ding, sondern als Füll-Material, welches allein in der Dienlichkeit für Anderes aufzugehen hat. Seine Funktion ist das Abpolstern, das Unversehrtlassen von Anderem durch Druckentlastung. Die kleinen Pyramidenhöcker des Schaumstoffs sollen sich eindrücken und einen weichen Untergrund erzeugen, der die Oberfläche des abzupolsternden Dinges nicht verletzt und es gegen Stöße von Außen sichert. Was als Material ehemals leicht gewesen ist, ist in der Hutgensschen bildhauerischen Umwandlung auf einmal sehr schwer, was weich und flexibel, jetzt hart und starr geworden.
Die Größe der Schaumstoffkissen war ehemals für ein mittelgroßes Objekt zugeschnitten, über welches wir nur mutmaßen können. Der Bleiabguss ist zu einer mittelgroßen, objekthaften Bildstruktur eines gestörten Rasters geworden, dessen physisches Eingedrücktsein in der Mitte auf eine nicht zurückholbare Anwesenheit von etwas Anderem verweist.
Gleichzeitig gibt es eine Umkehrung von Innen und Außen. Denn das Eingedrücktsein war für uns, die wir ja nur auf den Schutz des gepolsterten Dinges fixiert waren, nie sichtbar. Außerdem wurde das, was nur als Medium für weiches polsterndes Abdrücken existiert, selber zu einem Abdruck verkehrt und in eine dauerhafte Existenz übersetzt.
Für die Skulptur ‚In Between’ hat Hutgens sich für belgischen Granit entschieden. Dessen Oberflächenstruktur erscheint nur im polierten Zustand dunkel, im unpolierten Grau. Die hellen Sprengsel des Materials in der Modulation von Grauwerten erinnern an fotografische Schwarz-Weiß-Abzüge, ein paradoxer Kontrast des ganz Schweren zum ganz Leichten. (Hutgens beobachtet gern die einzelnen Stadien seiner bildhauerischen Prozesse durch die Fotografie, weil diese als Aufzeichnung der Lichtwerte das Licht mit seinen vielfältigen Reflexionen an Oberflächen zu einem eigenen stillen, modellierenden und damit plastisch arbeitenden Akteur macht.)
Der Ausgangspunkt für die Arbeit war der schmale Türdurchgang zu seinem Atelier. Hutgens wollte sich mit dessen materieller Manifestation und gleichzeitig mit seiner Erfahrungsstruktur beschäftigen. Ein über eine Tonne schwerer massiver Block wurde beschafft und in dieses massige Ungetüm ein schmale Passage hineingetrieben. Der Durchgang sollte aber nicht nur mit seinen Seitenwangen, sondern auch mit seinem oberen und unteren Abschluss in den Blick geraten. Würde aber das Bearbeiten eines solchen Blockes nicht automatisch etwas Dinghaftes hervorbringen und damit seinem Anliegen, sich ein materiales Untersuchungsmedium für unsere Erfahrungsstrukturen zu verschaffen, widersprechen? Hutgens entschied sich, die mit dem Material Granit verbundenen Tradition, die bis ins Archaische des Tempelbaus zurückreicht, mit einzubeziehen. Die seitlichen Wangen lassen nämlich rechteckige Säulenstrukturen anklingen, weil Hutgens es nicht bei bloßen Durchgangswandungen belassen, sondern die linke Wandung rechts gespiegelt und ihr damit ein iteratives Element angehängt hat. Die Suggestion einer Verdoppelung entsteht, weil die innere obere Rundung auf der anderen Seite als Rundungsstumpf fortgesetzt wird.
Da der Durchgang als Erfahrungsstruktur erarbeitet werden sollte, musste die Vorstellung des Durchgehens in die Fläche transponiert werden. Die prägnanteste Form des Überblickens einer Fläche ist die Diagonale. Da das Eintreiben einer Diagonale in die seitlichen Wangen die statische Stabilität des Durchgangs aufgehoben hätte, wurde daraus die geteilte Diagonale, die verkürzt einen Segmentbogen ergibt. Solche Segmentbögen hat Hutgens auf klassische Weise aus dem Material herausgebrochen. Dem Gedanken der diagonalen Leerstelle folgte als weiterer Gedanke der seiner augenfälligen Fülle, so dass die Komplementarität von Konkav und Konvex sichtbar wird. Um dieses Verhältnis schwingen zu lassen, hat er die materialen Segmente um 90 Grad verschoben und frei schwingend an einem Stahlstift vorne und hinten am Durchgang angehängt.
Aus einer anfänglichen Passage wurde auf einmal ein Raumkörper, der die markanten Spuren seiner unterschiedlichen Bearbeitungspraktiken trägt und damit eine Sedimentierung der Eingriffsvorgänge des Bildhauers zeigt. Zugleich sind zwei sehr verschiedene Zeiten latent zusammengeführt, die Gegenwart des treibend durchdringenden Künstlers und die Vergangenheit all dessen, was wir kulturell als Durchgang, als Tragendes und Lastendes in unserem Dialog mit dem Material entwickelt haben.
Rolf Hengesbach