David Semper
November 10, 2020 – March 28, 2021
David Semper moderiert einen bildhauerischen Dialog zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Organischen und dem Anorganischen. Im Verlaufe dieses Dialog zeigt sich, dass das Wesen des einen sich in das Wesen des Anderen hin und her verwandeln oder dass der Übergang als ein fließender erlebt werden kann. Eine der bildhauerischen Maßnahmen zur Führung dieses Dialogs ist das behutsame Einschließen, bei welchem zwei sehr ungleiche Materialien ineinander gefügt werden und miteinander zu sprechen anfangen über das, was sie sind und was sie nicht sind und über das, was sie nur zu sein scheinen. Durch diese Gespräche findet ein In-Sich-Kehren, Umwenden und ein Aufbrechen der Materialien statt, wass auch zu einem In-Sich-Kehren von uns selbst führen kann, weil wir in unserer Körperlichkeit einen engen Bezug zu diesen Materialien haben:
Die Innenseite einer organisch entstandenen Eierschale wird zum Äußeren einer Wand, nachdem sie bündig und sehr behutsam angesichts ihrer eigenen Verletzlichkeit in letztere eingelegt wurde. Im Widerspruch zur materialen Verletzlichkeit der Eierschale selbst erscheint das Einlegen zugleich als ein Eindrücken der Wand, wobei die Frage entsteht, wie die Wand in ihrer unerbittlichen Härte und Widerständigkeit auf einmal weich zu werden scheint, eine Berührungssuggestion auslöst und den Charakter von etwas Organischem annimmt, weil wir uns vorstellen, dass unser Daumen sich in die Wand eingedrückt und diese Einstülpung bewirkt hat. Diese unterscheidet sich von der Oberflächenqualität der restlichen Wand durch eine spezifische Glätte und eine changierende, minimal sich unterscheidende Farbigkeit, die nicht durch einen Farbanstrich hinterlassen worden sein kann. Auch darin scheint sich die Einstülpung auf uns zu beziehen, weil sie uns die unterschiedlichen Glätten und Farbigkeiten verschiedener Hautregionen unseres Körpers implizit vor Augen führt.
Erstaunlicherweise wird die Einstülpung in der Wand auch vom Licht nicht wie ein Fremdkörper, nicht wie etwas, welches mit seiner Außenseite sich dem Licht entgegenstellt, wahrgenommen, sondern wie ein natürliches Vorkommnis, das das Licht geradezu einlädt, seine weiche Modulation mitzumachen und leichte Schattierungen immer wieder anders ausfallen lässt.
Das Spezifische jeder einzelnen Eierschale kommt zum Vorschein in der Reihung, in der Differenz zur Nachbar-Vertiefung, in der jeweils unterschiedlichen Glätte und Farbigkeit. Um auch in dem Abstand voneinander etwas von der Einzigartigkeit der feinen Differenz deutlich zu machen, hat Semper kein äußerliches, metrisches Maß genommen, sondern seine eigene Elle als Spannungsbogen benutzt. Papiere entfalten sich aus einer Wand. Dies ist nur möglich, weil die Wand mit einem scharfen horizontalen und einem vertikalen Schnitt eine Verletzung erfahren hat und in diese Verletzungen behutsam Papiere eingesteckt wurden. Ein Blatt Papier ist ein ambivalentes Ding. Scheinbar besteht es bloß aus zwei Außenseiten, hat kein Inneres, nur Fläche und kein Volumen. In seiner Volumenlosigkeit macht es jeden Richtungswechsel mit und bestätigt in seinem Austritt aus der Wand diesen Befund, weil es zugleich vertikal und horizontal gerichtet ist. Sodann aber wird am Papier etwas fühlbar, das sich mit seiner stofflichen ‚Nichtigkeit’ nicht vereinbaren lässt: das Papier legt sich mit zunehmenden Abstand von der Wand eine eigene Kraft und Spannung zu. Es hält sich nicht mehr an die vorgegebene Richtung, sondern fängt an, sich zu wenden. Diese Wendung zu einer Weichheit ist mit der harten, anorganischen Wand nicht vereinbar. Die ‚Wendung’ wird nämlich zunehmend zu einer Wölbung, in der sich eine Spannung aufzubauen scheint, welche auf der organischen Faserigkeit des Papiers beruht, die trotz seiner Verletzlichkeit eine innere Widerständigkeit erzeugt.
Die Wölbung ist einem Segel vergleichbar, das sich bläht, – nur fehlt hier der Wind. Stattdessen scheinen diese Segel etwas anderes einzufangen, welches weniger greifbar ist als der Wind: Licht. Sie absorbieren einen Teil davon und hinterlassen an der Wand einen sanften Schatten. Wäre das Papier nicht dort, würde die Wand das Licht bloß an sich entlang gleiten und immer schwächer werden lassen. Die unterschiedlichen Wölbungen und der Schwung zum oder gegen das Licht und der Kontrast zum Schnitt in der Wand zeigen die innere organische Spannung des Papiers an, trotz seiner Dünne und Gleichförmigkeit, welche dem Papier seine Aufzeichnungsfähigkeit für das Schreiben und seine Stapelbarkeit verleiht.
Semper lässt diese Wölbung aber nicht einfach für sich als isoliertes Phänomen stehen, sondern setzt es zu anderen Wölbungen der anderen Papiere in Beziehung und schafft damit einen Zuwendungsgestus des Einhüllens oder Einklammerns oder auch des Anschmiegens. So werden von der anorganischen Wand auf einmal organische Gesten ausgesendet.