Axel Lieber
November 2, 2021 – January 28, 2022
Eine Asservatenkammer ist ein gesicherter Raum zur Aufbewahrung von Beweisstücken. Axel Liebers Kammer lässt sich nicht betreten, ist aber von außen einsehbar. Sie hat etwas von einer Stellage, in welche die Beweisstücke eingepasst sind. Beweise rufen ein vergangenes Geschehen wach, sind Fragmente und Aspekte dieses Geschehens und regen zur Visualisierung und Interpretation an. Sie vermitteln einen Einblick in die Dimensionen des Geschehens ohne Rücksicht darauf, ob es uns angenehm oder unangenehm ist. Sie stellen bloß, die Entblößungen werden aber nur skelettiert sichtbar. Sie können dem Kern einer Sache auf den Grund gehen, das Geschehen verdichten, stellen es dabei jedoch mitunter auf den Kopf oder stülpen es um, so dass das Innere nach Außen gewendet und das Äußere auf sein Inneres befragt wird. Sie sind etwas Konkretes, ordnen das Geschehen einzelnen Bereichen zu und leiten über zu Überlegungen der allgemeinen Tragweite der in dem Geschehen zusammenlaufenden Handlungen.
Beweisstücke sind Objekte, aber ihre Objekthaftigkeit enthält zunächst keine angemessene Aufklärung über ihren eigentlichen Charakter. Das Bedeutende an ihnen wird erst dann sichtbar, wenn ihre Verwicklung in Handlungen aufgedeckt wird und sie uns über diese Handlungen genauer unterrichten und uns diese ‚plastisch’ vor Augen stellen. Aus unserer Vertrautheit mit Handlungen und aus unserem Wissen über die Vielfalt an Möglichkeiten von Handlungen muss der richtige Bezug des Objekts zu dieser Vielfalt herausgelesen werden und die Möglichkeiten auf das entscheidende Geschehen reduziert werden.
Übertragen wir diese Überlegungen auf den Lieberschen Skulpturbegriff, dann springt ins Auge, dass seine Werke recht wenig mit einer klassischen Skulptur als ästhetischer Formation eines Objekts zu tun haben. Die beiden zentralen Begriffe der Formerfindung und der Materialgestaltung spielen bei ihm nur eine untergeordnete Rolle. Liebers Arbeiten werden auch nicht angemessen als Aufgreifen und Verwandeln von Dingen beschrieben. Zwar benutzt er vorhandene Dinge, aber seine bildnerischen Eingriffe sind nicht einfach Verwandlungen, sondern vollständige Umwandlungen der Dinge in etwas Anderes, bei dem wesentliche Aspekte des Dinghaften zugunsten der Beziehung auf menschliches Handeln und menschliches Geschehen umgepolt werden.
Liebers Skulpturen werden manchmal auch als Assemblagen bezeichnet, weil sie mitunter aus einer Zusammenfügung von Objekten bestehen. Eine solche Lesart hebt aber nur die ursprüngliche Herkunft und die Verschiedenartigkeit der Objekte hervor, betrachtet aber das skulpturale Werk nicht im Hinblick auf das neu entstandene körperliche Gefüge, auf die mit ihm verbundenen Handlungen und die damit verknüpften poetischen Gefüge.
Eine weitere Fehldeutung ist abzuweisen: Axel Lieber entstammt einer Generation von Bildhauern, in der es eine starke Strömung gegeben hat, Objekte zu Modellen zu formieren. Ihre Intention besteht darin, die Vielgestalt unserer Welt auf elementare Ideen und prägnante Anschaulichkeit zu reduzieren. Liebers Anliegen ist aber trotz äußeren Anscheins nicht objekthafte Reduktion, sondern Wandlung in einen verbalisierenden Raum von Bedeutungsverknüpfungen. Statt Versteinerung auf Elementarformationen möchte er verflüssigen, statt Konstruktion ästhetischer Prototypen möchte er subversiv bildhauerische Unscheinbarkeit verströmen, die mit der ehernen Gegenständlichkeit bricht und das menschliche Geschehen als dynamisches Gefüge aufruft. Deswegen haben Liebers Skulpturen auch meist nur ein geringes Gewicht. Sie bevorzugen die Nähe zu Papier, weil auf ihm die Gedanken fliegen oder schweben können und dabei nicht an Steinernes und Erzenes festgebunden sind.
Eine Asservatenkammer bewahrt Vergangenes. Ohne unsere Interpretationsarbeit sind die Objekte jedoch nur abgestandene Fragmente, bringen keine Lebendigkeit in unsere Welt zurück, kein menschliches Geschehen in seiner bizarren Vielgestaltigkeit ersteht wieder auf. Liebers Skulpturen wird man nicht gerecht, wenn man sie als gegenüberstehende Objekte betrachtet, die auf ästhetische Eigenschaften befragt werden können. Seine bildhauerische Arbeit besteht in einer Entkörperlichung von Dingen und ihrer Transformation zu einer Neukörperlichkeit. Die Entkörperlichung wird bewirkt durch Entkernen und Fragmentieren, eine Arbeit der Hände. In der deutschen Sprache haben wir semantisch die Nähe von Hand und Handlung bewahrt. Für Handlungen sind Hände häufig der Ausgangspunkt. Ihr geheimes oder unterschwelliges Leben, ihre indirekte Sichtbarkeit spielt in vielen von Liebers Skulpturen eine zentrale Rolle: in Bewegungssuggestionen, in Formkompressionen oder als Verborgenes hinter den Hüllen wie beim Marionettenspiel.
Liebers Neukörperlichkeit erscheint manchmal als Überbleibsel, als Geschrumpftes, als Ausgezehrtes, als Gestrecktes oder Gedehntes, Gespanntes, als Eingeschachteltes oder Verschachteltes. Diese Zustandsweisen stehen jedoch nicht für sich oder bilden einen intendierten Wert. Sie müssen immer so verstanden werden, dass in dieser Umwandlung der Dinge bzw. in diesen Umstülpungen der menschliche Körper das unverzichtbare Zwischenglied bildet. Mit dem menschlichen Körper kommt Bewegung, Kraft, zugleich aber auch Handeln, Gestaltung des menschlichen Lebensraumes ins Spiel. Unser Körper ist permanent mit Überlegungen und Planungen beschäftigt, um unser Leben zu organisieren. Dieses setzt sich zusammen aus einer Vielfältigkeit von Handlungen, die generalisierend als Ordnen, Einstellen und Aufstellen, Einfügen, Einräumen, als Sammeln, Zurecht- oder Passendmachen, als Messen, Sich-Aufhalten, Sich-einen-Halt-Geben, als Kleiden, Sich-Fassen, die Fassung bewahren, sich einen Rahmen geben oder in einen Stellen, als Sich-Richten, Aufrichten, Gerade-Richten, Einrichten, Platz-Schaffen, als Ablegen und Wiederaufgreifen, als Zählen und Erzählen, Erinnern, nach Innen-Gehen usw. interpretiert werden können.
Verdeutlichen wir dies mit einer Analogie zur menschlichen Sprache: Lieber wandelt das bisher klassisch Substantivische der Skulptur zu einer verbalisierenden Skulptur. Dies ist ein einschneidender Paradigmenwechsel zu einer anderen Weise auf Skulptur zu blicken. Denn mit der Ausrichtung auf menschliches Geschehen treten zwei grundlegende Fragen in den Vordergrund: Menschliche Geschehen kann in unterschiedlicher Weise ablaufen. Die Ablaufmodi werden ständig bewertet, indem wir Maßstäbe an sie anlegen. Lieber stellt in allen Arbeiten Fragen nach dem richtigen Maßstab. Menschliches Geschehen kann nicht nur von außen in seinem Verlauf, sondern auch von innen angeschaut werden. Bei der Innensicht interessieren uns die Beweggründe und die Bedeutungen, mit denen wir das Geschehen interpretieren. Diese Bedeutungen schöpfen wir aus dem umfangreichen Vorrat unserer verbalen Be- und Zuschreibungen und dem Netz, welches wir mit den Beschreibungen aufspannen und in welchem wir modellierend beständig Verschiebungen vornehmen. So werden bei Liebers Skulpturen nicht nur Tätigkeiten aufgerufen, sondern zugleich auch unser Bewerten und unsere Interpretationsmöglichkeiten.
Betrachten wir eine zunächst völlig unscheinbare Skulptur: an einer Verstrebung der Asservatenkammer hängt schlaff ein Bändel. Das Bändel ist ein Schnürsenkel , an welchem kleine Ringe von stofflichem Gewebe zu einer Kette aufgereiht sind. Bei den Ringen handelt es sich um die runden, durchlöcherten Fragmente des Gewebes der Schnürleiste eines Turnschuhs, in welchem der Schnürsenkel mit seiner Zugkraft seine Arbeit geleistet hat. Nicht mehr die horizontal gestreckte Form des Turnschuhs, sondern der Schnürsenkel hält wie ein ‚seidener Faden’ den objekthaften Bestand zusammen. Das den Fuß ehemals Umschließende und ihm seinen Halt Gebende hat sich aufgelöst. Doch die Kraft, mit welcher er zugeschlossen wurde und welche ihm den passenden Sitz und die Möglichkeit für einen sicheren Stand und festen Abdruck gewährt hat, ist bewahrt. Die Schmuckform des Gewebes hat sich in eine andere Schmuckform umgewandelt, in eine Kette, die sich zart um unseren Hals legen könnte und damit ist das Untere nach oben gekehrt.
Liebers Skulpturen verströmen ihren Reiz nicht durch den materialen Körper, sondern durch den Austausch von Körpern, den sie suggerieren oder vorschlagen, ferner durch die Verschiebung der Bedeutungen, die in dem Assoziationsfluss der mit ihnen verbundenen Tätigkeiten auftauchen. Manchmal erinnert solch ein Fluss an kindliche Phantasien, die sich in ihrem übersprudelnden Assoziationsreichtum noch nicht durch die Trennung in isolierte Objekte eingeengt fühlen. Um dafür frei zu werden ist aber eine andere Art von Wahrnehmung und geistigem Nachsinnen notwendig als das bloße Begegnenlassen eines Objekts. Liebers Werke fordern ein Mitschwingen in dem reichen Raum des menschlichen Treibens und Tätigseins und zugleich ein Eindringen in die poetische Tiefe der Bedeutungszuschreibungen unseres Tuns mit seinen Motivlagen. Dafür lassen sie uns eindringen in eine tiefere Art der Beschäftigung und Sicht auf die Welt unseres menschlichen Geschehens jenseits der bloßen Beweisstücke.
Rolf Hengesbach