Moritz Neuhoff
August 21 – November 11, 2022
Moritz Neuhoffs großformatige Bilder feiern das Malen. Sie schöpfen die volle Palette malerischer Möglichkeiten aus und führen den Betrachter in die erstaunliche Vielfalt visuellen Erscheinungsreichtums der Malerei der letzten achtzig Jahre. Dieser Erscheinungsreichtum geht aus Neuhoffs vielfältigen malerischen Bewegungen, aus seiner Übereinanderlagerung von malerischen Schichten und aus einer behutsamen Kontrastierung von Farben hervor. Dabei arbeitet er mit Unterschwelligkeiten, mit Andeutungen, mit feinen Spuren, was ein genaues Sehen erforderlich macht.
In seine Bilder fließen Erfahrungen ein, die wir aus dem Umgang mit unserem medialen Umfeld kennen. Smartphones und Laptops scheinen unsere Welt realistisch darzustellen, doch deren anderes Licht, die künstlichen Farben, immateriellen Räume, die übereinander gelagerten Ebenen werden von Neuhoff aufgegriffen. Wie aber sind elektronisch erzeugte Bildeigenschaften auf riesigen Leinwänden mit Pinsel und Farbe simulierbar bzw. übertragbar? Neuhoff hat dafür verblüffende Lösungen gefunden, auf die noch genauer eingegangen wird.
Zugleich beschäftigt er sich aber mit der grundlegenden Frage von Malerei: wie kann hinter einem visuellen Anschein etwas anderes verborgen sein? In Neuhoffs Bildern gibt es keine figurativen Szenen, in denen Sinn eingegraben ist, sondern es artikulieren sich scheinbar sinnlose Gesten von Malerei, die sich dann so umwandeln, dass das Bild zu einem Schleier wird, der sich hebt und senkt, je nachdem, ob etwas verborgen oder gelüftet wird.
Die Bilder operieren einerseits mit der Versicherung, dass Malerei genau das ist, was sie im physischen Prozess des Auftragens von Farbe sein kann, andererseits unterlaufen sie diesen Prozess radikal. Bei näherer Betrachtung löschen sich die vorgeblichen Materialitäten aus. Alle prägenden Faktoren von Malerei werden in diesen dialektischen Prozess von realer Physis und virtuellem Schein hineingezogen: das Licht, die Farben, die Bewegung, die Linie, die Fläche und die Räumlichkeit.
Das Licht seiner Bilder lebt von heutigen Erfahrungen mit Bildschirmen, bei denen das Licht ungreifbar hinter oder aus den bildlichen Elementen auftaucht und sich hart an dinglichen Kanten bricht. Neuhoffs Bilder beherbergen ein irisierendes, immaterielles Licht, welches sich aus dem malerischen Umfeld als diffuse, scheinbar bewegliche Strahlung heraushebt, ohne sich von ihm scharf abzugrenzen. Sie kann sich entweder aus einem dunklen Grund als changierend helles Strahlen, aus einem hellen Grund als ein Glühen innerhalb der dunkleren Malbewegungen oder als ein Flackern oder schwebendes Gleiten innerhalb der Farbe bemerkbar machen.
Die Farben sind zurückhaltend, in ihrer Latenz lauernd und erst nach genauer Wahrnehmung in ihrer ganzen Breite sichtbar, nicht der Natur entlehnt, aber auch ohne Beziehung zu den Farben unserer Produktwelt mit ihren künstlichen Oberflächen. Sie vermitteln den Eindruck als würden sie sich selbst simulieren. Sie changieren beständig in ihrem Ton, durchwebt von irrealem Licht. Einige seiner Bilder wirken monochrom mit einem Grau als Grundton, aus welchem sich langsam die Farben herausarbeiten. In anderen lüftet sich die Farbe aus dem Untergrund nach oben, nicht als einzelner Farbwert, sondern häufig in einem proportionierten Geflecht von anderen Farben. Dieses Geflecht stellt sich in einer distanzierten Betrachtung als Auseinandersetzung mit Spektralität dar, mit der Ausbreitung der vollen Palette von Farben in ihrem inneren Zusammenhang, was das besondere Licht in den Bildern verstärkt.
Neuhoff legt verschiedene Helligkeitszonen an und operiert mit dunklen Körperschatten, die er in lasierenden Schichten übereinander lagert. Dadurch entsteht eine Räumlichkeit, die durch einen Dialog von Schärfen und Unschärfen noch gesteigert wird. Die Räume verschieben sich, ohne dass es zu einer eindeutigen greifbaren Tiefenverschachtelung kommt. Man kann nie genau sagen, was der Vordergrund- und was der Hintergrundraum ist, Raum erhält einen fiktionalen Charakter.
Die Bilder zeigen eine Welt in Bewegung, die durch dicke oder dünne Linien artikuliert werden kann. Die Linien können in die Breite ausstrahlen, sich fast auflösen und die Bewegung ins Diffuse überführen. Der Hintergrund kann sich öffnen und die Linien aufsaugen oder verschlucken wie ein bewegtes Meer. Man kann sich mit den großen Pinsel-Windungen identifizieren und sie als seine eigenen, nicht planbaren Lebenswindungen interpretieren oder sie auf sein Umfeld mit seinen unbeeinflussbaren Kräften und Richtungen des gesellschaftlichen Lebens beziehen.
Neuhoff setzt unterschiedliche Bewegungsdynamiken in ein Gegeneinander. Zusätzlich verstärkt er die damit einhergehende Verunsicherung durch das Kontrastieren verschiedener Maßstäblichkeiten. So können die Bewegungen als Vergrößerungen von etwas unter einem Mikroskop oder als Verkleinerungen von etwas aus weiter Ferne Gesehenem interpretiert werden. Sie scheinen keinen Anfang zu haben, setzen unvermittelt ein und scheinen nicht auf ein Zentrum bezogen zu sein, welches ihnen einen ordnenden Bezugspunkt zuweist. Man kann sie als aus dem unüberschaubaren, chaotischen Kontext des Stadtraumgraffitis entnommen interpretieren oder sie als interstellare komplexe Energie-Erscheinungen auffassen, in denen zwischen einer wahrnehmbaren Ortung von Bewegung und einem chaotischen Dickicht die Grenze verschwindet. Zugleich forciert Neuhoff ein Gegeneinander von freier Bewegung und der in Rastern eingefassten oder gefrorenen Bewegung.
Das Aufscheinen des Virtuellen berührt auch die materiale Gesamterscheinung. Meint man von weitem aufgrund der dunklen Binnenschatten einen deutlichen plastischen Materialauftrag zu erkennen, realisiert man von nahem die Flachheit der Bilder. Den Unterschied von materialem Farbauftrag und gedruckter Oberfläche scheint Neuhoffs Malerei ad absurdum zu führen. Malerei taucht ein in die Mimikry medialer Qualitäten. So glaubt man denn in der Perfektion der Täuschung nicht mehr an eine malerische Urheberschaft, sondern an einen digitalen Druck oder an Objektivität vorgebende Fotografie unbekannter Herkunft mit rätselhaftem Sujet.
Das Changieren zwischen Subjektivität und Objektivität der Bewegungen erzeugt auch in der Interpretation der Formen Unsicherheiten. So hebt sich immer wieder ein dynamischer Gestus gegen neutralisierende Rasterformen oder gegen körnig sandige Bildgründe ab. Zugleich kann in seinem Verlauf der höchst artifizielle Malereigestus in fluide Blasenformen zerfallen, die ihn als Resultat eines natürlichen Materialschicksals darstellen. Überhaupt schwanken die Bilder immer wieder zwischen einer überbordenden Materialität, auf Materie basierenden Möglichkeiten und einem Materialitätszerfall, materialen Unzugänglichkeiten oder einer Materialaufhebung. Ein solches Gewoge von widersprüchlichen Prozessen kann man als visuelle Einsichtnahme in wissenschaftlich erschlossene Mikro- bzw. Makrowelten, als Überfluss unserer gesellschaftlichen Materialproduktion, als Äußerungsformen überschießender Jugendkultur oder als Selbstdarstellung der Malerei interpretieren.
Da Neuhoff beständig aus der komplexen Malereigeschichte unterschiedlicher Strategien des Farbauftrags zitiert und sich ihres ganzen Registers bedient, diese aber gleichzeitig in ihrer Erscheinung entmaterialisiert, kann man auch von einer reflexiven Metamalerei sprechen. Sie verfügt über alle Elemente des Malens und entzieht zugleich ihr eigenes Malen einer realen Anmutung. Das Bild zeigt sein eigenes Erzeugtsein und entlarvt es gleichzeitig als Illusion.
Die Entlarvung ist jedoch in dieser Dialektik des Scheins nur die eine Seite. Ihr haftet zugleich eine tiefere sinnliche Wahrnehmungserfahrung an: das Eintauchen in die Welt von Schleiern. Das Sehen scheint sich an etwas zu haften. Indem es dieses zu greifen sucht, macht sich etwas anderes aus dem Untergrund bemerkbar. Indem das Sehen zu diesem vorzudringen sucht, verliert es seinen ersten Anhaltspunkt, wird auch des Neuen nicht habhaft. Das Sehen entzieht sich in seinem Umherspringen immer wieder den eigenen Boden: Bei Neuhoff wird das Bild zum Schleier. In dem Dialog von Schärfen und Unschärfen, von Bewegungen, die nicht zu greifen sind, weil sie aus der Raumtiefe hervorkommen und wieder in sie entschwinden oder sich in der Farbgischt der Oberfläche verlieren, die sich zu den Rändern zerstäubt, in ihren Hintergrund auflöst oder mit ihm verschmilzt, kommt es beständig zu einem Sich-Öffnen und Sich-wieder-Verschließen des Bildes. Neuhoffs Bilder vermitteln das Erfahren visueller Transrealität.
Die einzelne malerische Geste Neuhoffs zielt nicht auf eine Kompositionsordnung, auf einen fixierbaren Zusammenhang, sie erscheint willkürlich als ein Akt beständigen, sinnlosen Rufens nach Freiheit. Im Zusammensehen der einzelnen Gesten stellt sich die Frage nach dem Sinn der malerischen Struktur. Paradoxerweise bleiben aber die einzelnen Gesten in den Bildern nicht für sich als isolierte statische Setzungen. Durch die Art ihrer visuellen Selbstaufhebung erzeugen sie einen Zusammenhang ohne erkennbare kompositionelle Struktur. Die Gesten bewegen sich in einem gelassenen Jonglieren von Sinnlosigkeit, von Dickicht, von Chaotischem, verdichten sich in den offenen Tiefenbewegungen der Bilder zu Schleiern, die einen beständig changierenden Bildraum des Vor- und Zurückspringens erzeugen, und erst diese nicht greifbaren Bildräume machen uns die Unfassbarkeit von Freiheit bewusst, die für uns Menschen wie vom Himmel zu fallen scheint.
Rolf Hengesbach
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.