Ground

Markus Willeke

November 20, 2022 – January 27, 2023

An einer harten Fläche zerschellen, den Tod finden und seine Form verlieren? Das Leben ist ein komplexer Prozess des Zusammenwirkens vieler Bestandteile zu einem Ganzen. Wann ist es lebendig, wann tot? Der von Markus Willeke gewählte Ausstellungstitel ‚Ground’ als Vergleichsbasis hierfür mag überraschen und verwirren. Was hat ein toter Vogel auf dem Boden mit dem Aufplatzen von Farbe auf einer festen Fläche zu tun? In beiden Fällen hat Bewegung ein abruptes Ende gefunden: die Bewegung eines Lebewesens und eine künstlerische Bewegung. Zugleich wird aber auch ein äußerster Gegensatz erzeugt. Wir haben es nicht mit einem realen Vogel, sondern mit seiner Darstellung zu tun. In ihr muss minutiös und zugleich souverän die Differenz zwischen Leben und Tod mittels der künstlerischen Gestaltungskraft im Umgang mit Farbe herausgearbeitet werden. Im anderen Fall bringt ein künstlerischer Gestaltungswille sich selbst mit selbstzerstörerischen Mitteln (Schleudern von Farbe) zum Ausdruck, führt darin seinen eigenen Tod (oder sein Leben nach dem Tod) in der Zufälligkeit (und Schönheit) des Ergebnisses herbei? Jede Malerei muss mit dem Paradox fertig werden, dass bildliche Lebendigkeit nur über eine erstarrte Farbe erkauft werden kann.
Zerstörung ist ein Leitmotiv der Kunst der letzten hundert Jahre. Bei Willeke ist sie gepaart mit einem reflektierenden Blick auf ihre ästhetischen Aspekte: welche formalen Gestaltungen sind dem Thema jeweils angemessen? Zerstörung kann Schönheit hervorbringen in der Kraft der Entfaltung neuer Formen und Klänge. Unser Bewusstsein muss sich umstellen, bereit sein, Sehgewohnheiten zu verlassen und Umpolungen vorzunehmen, gleichzeitig aber diese Umpolungen selbst wieder bespiegeln. Willeke lässt sich in seinem Werk in diesen Umpolungen auf äußerste Gegensätze ein.
Vögel haben zweierlei Erscheinungsformen: eine ruhende, körperlich kompakte Form mit zusammengefalteten, angelegten Flügeln und eine bewegte mit den ausgespannten Flügeln. Diese beiden Pole schmelzen in ihrer Entgegensetzung im toten Zustand zusammen, weil der Körper dort seine kompakte Form verliert: die Flügel mal mehr, mal weniger ausgebreitet, der Kopf nicht mehr geradeaus gerichtet, sondern leicht zur Seite gedreht oder in den Nacken gekippt und das Federkleid zerzaust. Die körperliche Kohärenz zerfällt in einzelne Inseln, die – nicht mehr von einem Zentrum gehalten – zum Rand zu streben scheinen. Dass ein nicht sichtbares körperliches Inneres als Zentrum die starken Bewegungen der Peripherie, der Flügel, zu initiieren und zu perpetuieren in der Lage ist, dieses Wunder ist noch erahnbar, aber im Verklingen.
Die aufgeplatschten Farbbomben haben Ähnlichkeit mit einem Gefieder, auf welches Gewalt ausgeübt wurde und sich in der Auflösung seiner Bestandteile befindet, hin zu einer chaotischen Gemengelage. Farbe ist hier nicht mehr die feine Ziselierung von Welt in ihren mannigfaltigen Differenzen, Farbe ist stattdessen Wurfgeschoss, plakatives Übertünchen von Objekten und Flächen, Zerstörung von Ansichten in der Aufprägung einer verfremdeten Ansicht, Ausdruck politischer Agitation.
Vögel haben eine ganz eigene Sicht auf die Welt, weiträumige Orientierungsmöglichkeiten, über die keine anderen Wesen verfügen, sie können sich spontan vom Boden lösen und zu ganz anderen lokalen Zusammenhängen aufbrechen und diese überspannen. Andererseits führt sich ihr Tod drastisch vor Augen: ein Sturz in den Abgrund. Übertragen wir solche Gesichtspunkte auf den Menschen, würden wir von Freiheit und ihrer Kehrseite reden. Die ‚Freiheit’ der Vögel wird von uns Menschen bedroht. Vielfach zerschellen sie an unseren Häusern oder technischen Geräten, an den Täuschungen, die wir aufrichten.
Die toten Vögel von Markus Willeke werden für uns aufgerichtet, alle Zeichnungen haben ein Hochformat. Sie sind ein Gespinst aus Inseln, Rinnsalen, feinsten Linien, unterschiedlich schimmernden Verläufen schwarzer oder anthraziter Farbe. Zwar gibt es originale tote Vögel als Modellvorlage, das bildliche Resultat von Willeke lässt sie aber nicht als Nachzeichnungen oder Nachmodellierungen erscheinen. Die Differenz zwischen den Körperteilen wird eingeebnet. Die Augen sind z. B. nichts anderes als ein Flecken neben anderen. Unterschiedlichste Auftragstechniken der Farbe, Monotypie, Linolschnitt, Siebdruck werden benutzt. Willeke versteht es, diese Techniken für seine Bilder so umzuwenden, dass nicht der Eindruck einer subjektiven, von der menschlichen Hand ausgeführten Zeichnung entsteht. Vielmehr scheint die Farbe hier autonom zu agieren, in ihrem Ausbreiten auf der Fläche Wege einer ganz eigenen Selbstdarstellung zu finden.
Die Bewertung von ‚Freiheit’ und ‚politische Agitation’ haben in den zurückliegenden knapp drei Jahren für die Betrachtung unseres sozialen Selbstverständnisses in der öffentlichen Diskussion eine immer größere Rolle gespielt. Wer darf sterben? Muss der Körper unversehrt bleiben? Welche Zugriffe auf ihn sind ihm zumutbar? Wie dürfen konträre Meinungen aufeinanderprallen, sich färben und beschmutzen?
Ein toter Vogel ist nicht bloß ein toter Vogel. Die ungeschönte, schutzlose Ausstellung eines gestorbenen Wesens auf öffentlichen Flächen ist allein schon ein Widerhaken. Für sein Eintauchen in den Bedeutungskreis (Freiheit, Umweltzerstörung und –veränderung), die unser Miteinander zu einem Auseinander werden lassen, für sein Kondensieren zu einem ästhetischen Symbol ist allerdings erforderlich, dass er eine angemessene Form erhält. Der Vogel muss an sich selbst in seiner Darstellungserscheinung eine Kraft entfalten können, die ihn erschreckend, leidend tot und doch auch lebendig macht, die malerische Farbe muss ihn aus sich heraus auferstehen lassen.

Rolf Hengesbach