Gegen den Horizont

DIETER KIESSLING

February 19 – April 14, 2023

Interview

Rolf Hengesbach und Dieter Kiessling sprechen über die Ausstellung. Um das Video auf YouTube anzusehen, klicke hier für Teil 1, hier für Teil 2 und hier für Teil 3.

Works


links: Pole, 2020, Videoloop, Maße variabel (videostill)

rechts: Money, 2020, Videoloop, Maße variabel (videostill)

Dieter Kiessling entwickelt aus einem kritisch analytischen Verhalten zu unseren Medien prägnante Verdichtungen von gegenläufigen, existentiellen Grundstrebungen. Er greift einfache Vorgänge aus unserem Leben auf, löst sie aus dem diffusen Rauschen unseres Umwelterlebens heraus, fokussiert und konzentriert sie als mediale Darstellungen. In ihrer Ambivalenz werden diese Vorgänge dann lesbar als Selbsterfahrungsprozesse, etwa beim Blick in den Himmel oder in die Wellen des Wassers oder auf den Endpunkt einer Rolltreppe, an der sich ein kleines periodisches Geräusch festgesetzt hat. Entscheidend ist hier aber die Fassung des Ausschnittes, der perspektivische Zugriff, die passende Zusammenführung von Bild und Ton und die mediale Stabilisierung eines Moments. In der Darstellung der Medien findet für uns eine Wahrnehmungsverdichtung statt. Die Vorgänge selbst sind einfache Bewegungsabläufe, meist Geringfügigkeiten, keine Handlungen oder Erzählungen von menschlichen Ereignissen, und dennoch ist der Mensch unsichtbar der Mittelpunkt und der Adressat dieser Vorgänge, weil nur er über seine Erwartungen diese Vorgänge entschlüsseln, sie mit Bedeutungen und Sinn aufladen kann, so dass sie in ihrer Medialität als abstrakte Selfies gelesen werden können.
Plane 2: An einem makellos blauen Himmel tritt ein winzig kleines Flugzeug in unser Gesichtsfeld. Es beschreibt eine gerade Linie und wird in wenigen Augenblicken wieder aus unserem Gesichtsfeld verschwunden sein. Nichts weiter. Es bewegt sich so gleichmäßig, mühe- und schwerelos und hinterlässt vier feine weiße Kondensstreifen am Himmel. Zuerst unmerklich holt das bildliche Medium es langsam näher an uns heran. In dem Wabern seiner zunehmenden Unschärfe wird der technische Körper schließlich zu einem Wesen, welches in den beiden farblichen Grundtönen blau und rot hin und herschwankt und uns in seinem regelmäßigen Zucken immer mehr an unsere eigene Lebendigkeit gemahnt, unser im Takt schlagendes Herz vor Augen führt. Im Überhandnehmen der zuckenden weißen Blitze wächst unsere Erkenntnis, dass alle Sichtbarkeit und alle Zuwendung zur Welt nur auf der Basis des Lichtes möglich und unsere Aufnahme und Deutung des Lichtes nur an und aus unserem Körper heraus stattfindet. Der Blick in den blauen Himmel, in ein unbeschriebenes, makellos blaues Wahrnehmungsfeld als das Offene, Ungreifbare, Entzogene, in einen scheinbar freien Raum, kippt im Verlauf von knapp 10 Minuten um in einen Blick auf uns und unser eigenes Blicken. Aus dem anvisierten, technischen Körper als Gegenüber wird in dem medialen Umformungsprozess etwas Organisches, welcher zu einer Identifikation mit dem Objekt führt und dann in eine Reflexion über unser Lebendigsein mündet.
Money: eine Rolltreppe bewegt sich auf ihr Endpodest mit dem Verschlussscharnier zu, dort klappert regelmäßig ein kleiner Penny. Er wird durch die Wucht der erbarmungslos sich nach vorne bewegenden Mechanik immer wieder angestoßen, aber der Impetus ist nicht stark genug, um ihn über die Verschlussschwelle zu befördern: ein hilfloser Spielball übergeordneter Kräfte, der aber gleichzeitig in eine Periode eingetreten ist, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Die Rolltreppe dient der Höhenüberwindung, sie ist etwas Transitorisches, der Penny bleibt aber im Aufsteigen gefangen, er stößt an eine unüberwindbare Grenze. Er artikuliert den Kreislauf des Lebens, insofern als jeder Tag gleich beginnt und gleich endet, immer ein kleines Stück vor und zum Anfang zurück, ähnlich wie das Jahr, es gibt keinen Fortschritt, keine Veränderung, nur ein gleichmäßiges Pulsieren eines Kreislaufes. Und doch hat der Penny eine so gute waagerechte Lage, dass er nicht vom Schlund verschluckt wird, der ihn vermutlich zermalmt hätte.
Pole: ein Fahnenmast steht wuchtig und starr gegen einen blauen Himmel aufgerichtet, auf dem kleine zarte Wolken ziehen. Ein heftiger Wind treibt nicht nur die Wolken an, sondern lässt auch die nur leicht gespannten, hinter dem Mast versteckten Metallseile, mit denen die Fahnen hochgezogen werden, ins Blickfeld treten und im Takt gegen den Mast schlagen. Zu diesem Geräusch gesellt sich ein anderes, ein Glockengeläut. Beide Geräusche mit ihren unterschiedlichen Takten überlagern sich. Glocken laden zu einem Gottesdienst an einem in der Nähe befindlichen Ort ein, die Wolken hingegen driften in eine unerreichbare Ferne. Der Wind, der die Wolken antreibt, markiert im Schlagen der Seile das Hier. Der Fahnenmast ist ein Symbolträger, an ihm werden Signale an unser soziales Miteinander sichtbar gemacht, während die Glocken, die zu einer Veranstaltung einladen, eine andere Gemeinschaftlichkeit ansprechen. Das Seil transportiert die Bedeutung der Fahne in die Höhe. Durch unsere Hände wird das Seil hochgezogen. Es vertritt uns. Die starre Stange verbindet den Boden, auf dem wir stehen, mit dem Oben, wohin wir häufig unsere Wünsche projizieren und von dem wir mitunter unser Heil erwarten. Klänge sind Schwingungen, die sich mit dem Wind bewegen und die wir entziffern können. Die Wolken im makellos blauen Himmel hingegen sind ein nicht greifbares Element, nur manchmal entziffern wir sie als weißer Schattenriss von Dingen oder Wesen, die sich in den Himmel schreiben. Wir sind hin und hergeworfen zwischen dem Fernen und dem Nahen, zwischen dem Oben und dem Unten, zwischen dem Starren, welches uns hält und dem leicht Beweglichen, welches Schwingungen ermöglicht.
Divide: Wellen auf einem Wasser, die sich kontinuierlich in die Ferne bewegen, entstanden durch ein Schiff, welches sich zu einem nicht sichtbaren Ziel bewegt und die Wellen hinter sich lässt. Die Wellen sind geteilt in zwei Pole, die sich zu den Rändern am stärksten ausgebildet haben, links ein Aufschäumen der Wellen ins Helle, Lichte, rechts ein Aufschäumen ins Dunkle, rauchig Verbrannte. Gegen die Mitte zu scheinen die Wellen schwächer zu werden und zu einem Ausgleich zu kommen. In der Mitte tut sich ein beruhigter grauer Graben auf. Werden wir dort hineinfallen? Das Boot, von dessen Heckseite aus diese Wellenereignisse aufgenommen wurden, ist nicht sichtbar, es gibt keine menschlichen Geräusche, nur das gleichmäßige Rauschen der Wellen. Wir finden keinen Anhaltspunkt für die Schnelligkeit von Bewegung, findet sie überhaupt statt? Gibt es ein Ziel oder gibt es nur das ewige Spiel der Kräfte ohne Fortschritt oder Entwicklung, in die positive aufstrebende Richtung und in die negative vernichtende Richtung? Ein Filmtitel aus den siebziger Jahren lautete: ‚in Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod’.
Der Ausstellung haben wir den Titel ‚Gegen den Horizont’ gegeben. Der Titel ist doppeldeutig. Die Präposition ‚gegen’ kann räumlich als Hinwendung zu, auf ein Ziel gemeint sein, sie kann aber auch die Konfrontation bezeichnen. Auch der Horizont ist ein eigenartiges Phänomen: Er ist das gerade noch Sichtbare in äußerster Ferne, wir können ihn aber nicht erreichen. Er ist nichts Festes, sondern eine imaginäre Grenze. Gleichzeitig ist er dasjenige, welches gegenüber allem den Hintergrund bildet. Übertragen auf unser Leben kann es beide Tendenzen geben, den Hintergrund von allem Tun anzunehmen oder sich vom Hintergrund lösen zu wollen, ein dialektisches Hin- und Her von Gefangenschaft und Befreiungsversuchen. Dieter Kiesslings neue Videoarbeiten führen uns prägnant diese Ambivalenz vor.

Rolf Hengesbach