Axel Lieber
October 19 – December 4, 2015
In die Galerie ist der Herbst eingezogen und mit ihm etwas Warmes um den Kopf, Kapuzensweatshirts in modischen Farben, die passenden Schuhe und zum Verpacken gleich die ökologisch korrekte Papiereinkaufstüte dazu. Ist der Schutz vor Kälte aber nicht trügerisch? Besteht doch das Sweatshirt nur aus Säumen, bildet nur ein Gerüst, das unser Herz der Kälte und den Geistern düsterer Novembertage aussetzt. Selbst die reinlich weiße Einkaufstüte widersetzt sich, starrt uns mit großen dunklen Augen entgegen. Wohin sollen wir uns wenden, wollen wir uns in der Welt orientieren, ihre Weite spüren und einen entfernten Ort finden? Wir studieren eine Landkarte, befinden uns aber sogleich im großen finsteren Weltall. Was ursprünglich Neugier oder Orientierung oder Sehnsucht war, wird hier zu einer Sicht auf den Kosmos, das Entfernte und scheinbar Unveränderliche. Axel Lieber hat diesen Kosmos
mit großer Sorgfalt Stück für Stück in malerischen Schwärzungen entstehen lassen und nennt ihn „das private Universum“. Der Kosmos als das uns Einhüllende besteht aus zartem Papier. Wie bei einem Kinderbuch sieht man noch die Falten, in denen sich etwas aufklappt, auf das wir uns staunend einlassen können. Bilder und Worte fügen das zusammen, woraus wir unsere Welt konstruieren. Bilder allein reichen nicht, Worte müssen als Orientierung hinzukommen, um dem bildlichen Ganzen seine Richtung zu geben. Weil Worte aber in den Bildern einen Halt brauchen, nicht frei durch den Kosmos des Bildlichen fliegen dürfen, haben sie eine Umrahmung bekommen. Diese Wortblasen sammeln sich in unserem Leben zahlreich an, weil wir so viele Orientierungen und Einordnungen brauchen. Fügt man sie einzeln zusammen, entsteht ein Wald aus Worten, ein Dickicht, aus dem Axel Lieber die Worte wieder befreit hat, so dass nur die Blasen mit ihren Richtungsweisungen übrig bleiben.
Wir haben nun die im ersten Raum ausgestellten Arbeiten passiert. Liebers diesjährige Ausstellung nimmt ein Umpolen von Bildern vor, löst unser Sehen aus vertrauten Zusammenhängen und deutet ihre Sinnbestände neu. Man fühlt sich bei Liebers Vorgehensweise an Lewis Carroll ‚Alice im Wunderland’ erinnert, wo sich hinter einer jeder möglichen Tür unerwartet eine andere Welt öffnet. Bei Lieber bedarf es aber nicht einmal einer solchen Türe, das Umpolen findet direkt in der alltäglichen Welt statt. Axel Lieber hat seiner Ausstellung den Titel „Sollbruchstellen“ gegeben. Eine Sollbruchstelle ist das Element einer Konstruktion, welches im Schadensfall die zerstörenden Kräfte aufnimmt, um die Zerstörungswirkung auf die Gesamtkonstruktion so klein wie möglich zu halten. Wieviele Sollbruchstellen gibt es in unserem Leben, wo befinden sie sich? Ist das Auffinden allein schon heilend oder sollten wir nicht der interessanteren Frage nachgehen: wo führen uns die Sollbruchstellen hin, welch neue Perspektiven ergeben sich?
Der Umgang mit Erwartungen in Bildern und das Umpolen von Bildern ist eigentlich die Aufgabe von Malern. Es gibt jedoch im Bereich des dreidimensionalen Arbeitens, des Herstellens von Skulpturen auch den klassischen Begriff des Bildhauers. Axel Lieber erweist diesem Begriff alle Ehre. Allerdings ist er kein Bildhauer, der beim Urzustand rohen Materials anfängt. Er geht in unserer heutigen komplexen Welt von bestimmten Ausgangslagen aus, von vorgegeben Bildern, von vorhandenen Orientierungen. Er befragt diese Orientierungen, reflektiert sie und wendet sie. Dabei orientiert er sich an der kindlichen Phantasie, in der das Umpolen von Vorstellungen viel beweglicher als in der Welt der Erwachsenen ist. Er unterläuft den Drang nach einer festgezurrten stabilen Weltdeutung unserer Erwachsenenwelt, verflüssigt stattdessen unsere Erstarrungen, unser Festklammern an Faktisches, setzt sie frei und öffnet sie für das Reich des Fiktionalen, des Möglichen, des Geistigen, ohne aber von unserer bodenständigen Alltäglichkeit wegzurücken. Das Fiktionale ist kein entferntes oder entrücktes Idealreich, sondern eine direkte Verlängerung unserer Gegebenheiten, nur dass diese nicht mehr ganz sicher in der Welt stehen, sondern den Blick öffnen ins Weitere, augenzwinkernd, in das kunstvoll delikate Reich des Humors.