Georg Cadora
February 8 – March 2, 2016
Kann man das Werk bedeutender verstorbener Dichter auf eine Weise verlebendigen, dass man Eindrücke von der Impulsivität, Dichte und Magie ihrer Texte aufnimmt und sie in die Gestaltung ihrer Gesichter so eindringen lässt, dass sich die Intensität ihres Werks auf ihren Gesichter abzeichnet? Mit diesem Projekt beschäftigt sich Georg Cadora im Kernteil seines zeichnerischen Oeuvres. Er hat dafür eine besondere Technik entwickelt. Sein zeichnender Stift setzt nicht ab, sondern schafft unterschiedliche Dichtigkeiten, Geschwindigkeiten und Kontrastierungen durch ununterbrochene, feinste kreisende Bewegungen. Es ist, als ob sich die eigenen Lese-Erfahrungen in ein nervöses Zeit-, Bewegungs- und Schreibmuster übersetzen. Das lesende Auge transformiert seine textlichen Durchdringungen in eine freie zeichnend-schreibende Bewegung. Diese hat in ihrer Grundstruktur den einfachen Duktus eines Kringels oder einer Schlaufe, die ausgreift und zugleich zu sich selbst zurückkehrt, indem sie ihren Ausgangspunkt berührt. In der Rückkehr zum Ausgangspunkt hat sie aber Schwung aufgenommen und dieser treibt sie weiter. In den ersten Schreibversuchen von Kindern wird diese einfache Bewegung durch die Lineatur eines Schulheftes auf die Horizontale gebunden. Bei Cadora ist sie entfesselt, befreit von Richtungsvorgaben. Die Bewegung hat sich gelöst von einer Ordnung des Neben- und Untereinanders. Stattdessen verkringelt sie sich im Übereinander, schafft ein Dickicht, in welchem der lineare Ausgangspunkt und die lineare Bewegung völlig zum Verschwinden gebracht wird. Diese Art des Zeichnens ist in ihrer Prozesshaftigkeit, in ihrer Richtungslosigkeit, in ihrer Kontinuität und ihrer scheinbaren Ziellosigkeit gegen klassische Zeichnungstechniken gerichtet, welche als Strichgebilde eindeutige Richtungen, sowie gliedernde und strukturierende Akzente enthalten, und bei welcher der Strich sich immer wieder vom Papier entfernt und Luftlinien vollzieht.
Im übertragenen Sinne vollzieht diese zeichnende Bewegung an sich selbst, was auch im literarischen Text stattfindet: Der Ausgangspunkt eines Textes sind bekannte Worte. Diese Worte werden vom Dichter aneinandergereiht, ein zunächst linearer Vorgang. Aus dem linearen Vorgang erwächst aber in der Auswahl aus unserem Wortvorrat und in der syntaktischen Zusammenstellung der Worte ein Gewebe, welches die Linearität verlässt und unterschiedliche Ebenen einzieht. Die andere Art von Dichtigkeiten und Spannungsbögen auf diesen verschiedenen Ebenen unterscheidet es von unserem gewöhnlichen Sprechen und Schreiben. Dichtigkeiten und Kontraste lassen sich besonders gut durch die Farbe Schwarz herausarbeiten. Fast alle Blätter von Cadora bestehen lediglich aus dem Licht des hellen Papiers und den Dichtigkeitsmodulationen eines feinen Bleistiftes oder einer zarten Feder und schwarzer Tusche. In diesem Spannungsbogen fächert er das Gewebe seiner Leseerfahrungen auf.
Ein Gesicht besteht aus einem Umriss, aus den einzelnen Merkmalen, die im Zusammenhang mit unserer sinnlichen Wahrnehmungsaktivität stehen (Auge, Nase, Mund, Ohren) und aus der diese Merkmale verbindenden Modulation der Gesichtshaut. Wir sprechen im Deutschen von Gesichtszügen. Es ist naheliegend, bei der Darstellung eines Gesichtes mit dem Umriss oder den Gesichtsmerkmalen anzufangen. Cadora hingegen fokussiert in seiner Zeichentechnik auf das am schwersten zu Greifende, auf die Gesichtszüge. Aber auch diese modelliert er nicht direkt, sondern nur indirekt, indem er sie aus seinen mäandernden Liniengeweben hervorscheinen lässt. Da die einzelnen Gesichtszüge nicht in einem friedlichen Nebeneinander liegen müssen, lässt er mitunter seine Gesichter von unterschiedlichen Ebenen überlagern, was die Facettenhaftigkeit des menschlichen Gesichtes verstärkt.
Cadora nimmt sich in dem Prozess des kreisenden Durchdringens von Werk und Gesicht große Freiheiten heraus. Nur selten sind die Gesichter vollständig, nie kann man den einen Dichterkopf mit dem anderen vergleichen, weil die Dichtigkeiten, die Spannungsbögen und die Lichtungen in der jeweiligen Darstellung zu unterschiedlich und auch die innere Dynamik und die jeweiligen Brüche in den Gesichtern sehr verschieden sind. Cadoras Gesichter sind nicht einnehmend. Obwohl wir durch die Photographie mit der Physiognomie vieler der Dichter vertraut sind, macht er in seinen Zeichnungen offensichtlich, dass wir diese Gesichter nicht vereinnahmen können, dass sie in einer Distanz zu uns verbleiben müssen. Manchmal taucht ein Gesicht fast vollständig ins Dunkel ab, in minimalen Andeutungen lassen sich nur noch die Augen unterscheiden. Mitunter verschmilzt ein Gesicht mit seinem Umfeld, bei anderen franst das Gesicht aus oder bricht ab oder zerteilt sich in unterschiedliche Hälften. Es geht Cadora nicht primär darum, eine photographische Abbildung der Gesichtsphysiognomie zu erzielen, sondern die dichterische Kraft, das Unauslotbare und Unbegreifliche im dichterischen Schöpfungsakt in seinen mäandernden Linienschlaufen spürbar werden zu lassen.