Björn Siebert
14 March – 22 April, 2016
Die Ausstellung hat ihren Titel „The Things We Carry 1969 – 1971“ einem Lied der Gruppe Dakota Suite entliehen. Außerdem ist der Ausstellungstitel beinahe identisch mit dem Titel des berühmten Vietnamkriegsbuch von Tim O’Brien: „The Things they carried“, in welchem er auf die vielen persönlichen, unausdenkbaren Sachen verweist, die die Soldaten damals bei sich trugen. Sowohl ‚Dinge’ wie auch das ‚Tragen’ kann in mehreren Hinsichten verstanden werden: was wir ‚am Leib tragen’ oder was um uns herum ist kann gemeint sein, aber auch unsere Erinnerungen oder Gedanken. Das, was wir tragen, kann uns schützen, hervorheben, verbinden, niederdrücken oder auch entstellen. Erinnerungen oder Gedanken werden durch persönliche Erlebnisse wie auch durch mediale Speicher geprägt, die wir uns in Form von Schrift und Bildern aneignen. Hier spielt die Photographie eine große Rolle. Sie scheint zunächst einfach lesbar, ist aber bei näherem Hinsehen selbst wieder in medialen Formen verpackt. Wir müssen Praktiken entwickeln, um die sich verändernden Formen des Mediums für uns jeweils aufzuschließen.
Björn Siebert beschäftigt sich aber nicht nur mit den offensichtlichen Resultaten des Mediums Photographie, wo Wirklichkeit in Form von Bildern dargestellt oder gefasst wird, sondern auch mit der Seite ihres Gegenübers, mit der Wirklichkeit selbst. Dies erscheint zunächst paradox, da doch Photographie im Rufe steht, Wirklichkeit bloß mechanisch in Bildern zu reproduzieren. Statt die Wirklichkeit abzulichten, baut Siebert aber seine Bildwirklichkeit zunächst einmal Detail für Detail auf. Er interessiert sich dafür, dass nicht nur die einzelnen Gegenstände, sondern auch Wirklichkeit selbst hergestellt ist, dass das Umfeld für die Gegenstände in Form von Stadt, Landschaft, Porträt oder Interieur selbst aus Herstellungsprozessen resultiert. Da wir unsere Wirklichkeit mit kulturellen Konnotationen versehen, können wir uns in einem nächsten Schritt fragen, wie diese Konnotationen auch in den Darstellungsformen dieser Wirklichkeit, in ihrer Rezeptionsweise mit weiteren zusätzlichen Konnotationen versehen ist, die dann auf die Ästhetik des einzelnen Bildes und seine Lesbarkeit einwirken.
Weil Siebert sich für Wirklichkeit als Erzeugtes, als Dargestelltes und als Wahrgenommenes interessiert, geht er zunächst von vorgefundenem Material aus, in welchem Wirklichkeit eine bestimmte Darstellungsform gefunden hat. Er betätigt sich als Archäologe, der Darstellungszeugnisse ausgräbt. Für die Ausstellung hat Siebert aus dem riesigen Fundus an Bildmaterial, welches der amerikanische Kongress bei Photographen zur Dokumentation des Landes in Auftrag gegeben hat, die Jahre 1969-71 durchforstet. Man kann von solchen Archivbildern erwarten, dass sie neben der Dokumentation bekannter Gebäude auch eine Erfassung des öffentlichen Raums enthalten. Bei seinen Recherchen stieß Siebert neben Bildern von Repräsentationsbauten auch auf Bilder, deren Funktion und Bedeutung nicht offensichtlich ist und man sich fragt, warum sie überhaupt gemacht wurden. Ihn leitet dabei der Gedanke, dass das scheinbar Absichtslose umso subtiler Absichten implizit enthält. An dieser Stelle wird Siebert zum Bildanalytiker. Er wählte Bilder aus, die Mentalitäten des Erzeugens von Wirklichkeiten freilegen. Da es sich um Bilder von Architekturen handelt, fragte er sich, wie diese Bilder Mentalitäten im Umgang mit Materialien, mit Strukturen, mit der Selbstdarstellung von Räumen in ihrer Zugänglichkeit von Innen und Außen freilegen und wie in der paradoxen Kombination von Elementen sich diese Mentalitäten aussprechen. So fand er Bilder von Innenräumen, die zugleich an den Wänden Bilder der Außenansicht enthalten. Das Prächtige und Pittoreske des Äußeren steht im Widerspruch zur Ansammlung einzelner Teile, zum Gestus des Hinzufügens und der Kombination von Verschiedenartigem im Inneren. In einem nächsten Schritt wird Siebert zum Kurator, der eine Auswahl zusammenstellt und die Bezüge dieser Auswahl in ein Spannungsverhältnis setzt. Dann fällt er seine künstlerischen Entscheidungen zur materialen Behandlung der Bilder und zum Präsentationsmodus: welche neue materiale Qualität und Größe sollen die Bilder erhalten? Bei dem Bildmaterial des amerikanischen Kongresses hat er sich für digitalen Siebdruck auf Kappa entschieden. Bei diesem Herstellungsverfahren ist die Rasterung sichtbar, zugleich gibt es kein reines Weiß und kein tiefes Schwarz. Die Bilder erhalten einen silbrigen Schimmer, der sie gleichzeitig in die Nähe von Zeitungsfotos rückt. Da es sich um Architekturfotos handelt, entsteht in ihrer physischen Anmutung als Zeitungsbilder die Erwartung, dass diese Bilder von Ereignissen erzählen, vordergründige Ereignisse kommen in in ihnen aber nicht zum Vorschein, sondern nur hintergründige Handlungen, die die einzelnen Teile so zusammengefügt haben. Neben dem Archivmaterial des amerikanischen Kongresses hat Siebert auch noch andere Quellen erschlossen: Archivbilder aus dem Internet, aus Zeitungsarchiven wie dem der Baltimore Times oder auch Postkarten. Letztere hat er zu einem großen Werkblock zusammengefasst. Die Postkarten sind von beiden Seiten zu sehen. Die farbige Vorderseite scannte er ein, belichtete sie dann als C-Print und rahmte sie zusammen mit den original beschriebenen Rückseiten ein. Alle Postkarten datieren aus dem Jahr 1969 – dem Jahr der Mondlandung als Zielpunkt einer Sehnsucht der Menschheit nach einem Ausgreifen in den Weltraum und Amerikas Antwort auf die Tet Offensive mit Napalm Bomben als systematischer, anonymer Zerstörung von Menschen und Landschaft – und zeigen das Additive in der Versammlung einzelner Gebäude innerhalb amerikanischer Städte. Es gibt keine Postkarten von bekannten touristischen Highlights. Sie sind nicht auf den Blick eines Urlaubers zugeschnitten. In diesen Bildern kommt zum Ausdruck, wie man in den sechziger Jahren den Gestus des vorhandenen und des neu Gebauten an Architektur in seiner additiven Gemachtheit, in dem Zusammenbau der einzelnen Elemente und in der Zugänglichkeit nach außen für den öffentlichen Raum bildlich darstellte. In der Verbindung mit dem persönlich geschriebenen Text ergibt sich eine Mischung aus privaten Lebensalltäglichkeiten und öffentlichen Markierungen und Strukturierungen der Lebenswelt in einem spezifischen Zeitgeist.
Als Mittelpunkt seiner Ausstellung wählte Siebert eine Photographie, die ursprünglich der berühmte amerikanische Photograph Walker Evans von der Haustür seines ebenso berühmten Kollegen Robert Frank aufgenommen hat. Diese photographische Situation analysierte Siebert minutiös, baute sie dann Detail für Detail nach und nahm sie in einem neuen Großbildphoto auf. Das ursprüngliche Photo wird auf die Zeit zwischen 1969 und 1971 datiert. Für Björn Siebert erfährt es eine symbolische Aufladung, da es genau am Ende der gesellschaftlichen und künstlerisch experimentellen Aufbruchzeit der sechziger Jahre entstanden ist, die zu einer Neudefinition des öffentlichen Raumes geführt hat. Das Bild zeigt eine geöffnete Haustür, durch die helles Licht von außen eindringt, aus der Perspektive des Inneren eines Hauses, welches vollständig aus dem Zusammenbau einzelner hölzener Elemente besteht. Der Innenraum liegt weitgehend im Dunklen, es zeichnen sich nur Schemen von einzelnen Gegenständen ab, vom Außenraum ist nichts zu sehen. Die konkrete räumliche Situation ist schwer zu erfassen, denn in der Lichtstimmung dominiert tiefdunkles Schwarz mit wenigen Aufhellungen und als Gegenpol das helle Licht des Draußen. So ergibt sich die magische Situation eines Überganges von einem Raum menschlichen Lebens angefüllt mit hergestellten Dingen, die sich aber in ihren Details nicht zu einer konkreten Lebenserzählung aufschließen hin zu der Helligkeit eines Außerhalb, welches uns ebenfalls entzogen ist. Bezieht man das Dunkel auf die Vergangenheit und das Helle auf die Zukunft, so bleibt die offene Frage, wie sich beides zueinander entfaltet, wie der persönliche Raum des Dunklen, des Gemachten, des Privaten mit dem hellen Raum des Öffentlichen oder des Gedanklichen sich zusammenschließt, – wird die Öffentlichkeit in der Zukunft aus diesem privaten Raum ausgeschlossen werden? – und welches Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft könnte sich daraus entwickeln?
Obwohl Walker Evans damals für sein Photo ein Stativ benutzt hat, sind die perspektivischen Linien nicht exakt vertikal oder horizontal. Siebert macht auf dieses Schwankende, Unauslotbare als Charakter des Photos aufmerksam, indem er zwei Varianten zu dem Ausgangsphoto zeigt, bei denen er die räumlichen Kanten und den blickmäßigen Zugang der Kamera zur Tür fast unmerklich geändert hat.
In dieser bildlichen Neuinterpretation wird Walker Evans Ausgangsphoto in seiner harten Schwarz-Weiß Modulation und mit seiner Tür, deren Öffnung nirgendwo hinführt, zu einer Metapher für die zeitliche Wasserscheide zwischen den sechziger und siebziger Jahren als dem Ende einer Neuformulierung des öffentlichen Raumes, welche darin bestand, den öffentlichen Raum für private Bedürfnisse zu öffnen und diese Öffnung in der Zugänglichkeit und der Modularität der Architektur zu manifestieren, und zugleich zu einem Plädoyer für die Magie eines Bildes, bei welchem Sichtbares und Unsichtbares so zusammengreifen, dass auch die herauslesbaren Bedeutungen nicht zu einer abschließenden Deutung gebracht werden können.