Peter Bösenberg, Dirk Eicken, Luis Gordillo, Alex Hanimann, Susanne Kutter, Axel Lieber, Christopher Muller, Björn Siebert, Markus Willeke

March 6 – April 29, 2017

Mit dem Wort Dislocation wird der Defekt in einer molekularen Struktur bezeichnet. Dies kann eine Fehlstelle in einer Gitterstruktur oder das Eindringen einer fehlerhaften Reihe in einer Ordnung sein. Man kann die Wortverwendung erweitern und fragen, ob das Wort auch auf Dinge oder gar auf Menschen und deren Verhalten anwendbar ist. Es gibt natürliche Kontexte von Dingen oder menschlichen Lebensweisen. Wir sprechen davon, dass etwas hierher oder dorthin an seinen natürlichen Ort gehört. Dabei setzen wir voraus, dass es uns Menschen in unserer Wahrnehmung gelingt, solche unterschiedlichen Kontexte, Orte, Ordnungen unterscheiden und eindeutig zuordnen zu können.
Diese natürlichen Kontexte oder Orte werden zunehmend gestört, Ordnungen geraten durcheinander, fremde Dinge oder Menschen dringen in bestehende Ordnungen ein oder werden aus bestehenden vertrieben. Wenn Ordnungen oder natürliche Umgebungen für Dinge oder Menschen verloren gehen, dann brechen Vertrautheiten zusammen, dann fällt es schwer, den Dingen oder auch den Menschen bestimmte Eigenschaften noch zuzurechnen und es wird immer schwieriger, feste Erwartungen zu entwickeln.
Wenn Dinge oder Menschen entwurzelt werden, dann werden sie zu Anderen, man erkennt sie nicht wieder. Und da unsere Welt immer dichter wird und sich Kontexte überlagern, wird es immer schwieriger zu entscheiden, was wirklich ist oder was neuen künstlichen Sphären angehört, was Fiktion oder Traum ist, wie sich der Realitätsbezug für etwas noch auszumachen lässt. 
Bei solch einer Zunahme von Unbestimmtheiten kann man fragen, ob Ordnungen noch möglich, ob für die großen wichtigen Bereiche unseres Lebens Eindeutigkeit und Orientierung überhaupt noch erreichbar sind. Man kann eine solche Entwicklung befürworten und darin ein Zeichen für die immer stärkere Individualisierung der Welt sehen oder man kann beklagen oder bemängeln, dass es keine für das Leben passenden natürlichen Orte mehr gibt. Letztere Einstellung hat zu einer starken Ökologiebewegung und zu einer neuen Hinwendung zur Religion geführt. Dem Wort Ökologie liegt die Vorstellung einer Lehre von der richtigen Führung des Hauses (Oikos) zugrunde, worin der Verweis auf eine passende Einbettung des Lebens in die Umwelt einbegriffen ist.
Da wo Zweifel daran wachsen, was eigentlich sinnvoll, was der Kern eines gut geführten Lebens sein könnte und wo eine Identifikation mit natürlichen Orten des Lebens nicht mehr stattfindet, da erleben wir Gegenbewegungen, die irrationale neue Haltepunkte anbieten, die eine für uns zunächst absurde Magie oder Heiligkeit entwickeln.
In unserer Ausstellung Dislocation 2017 versammeln wir sehr unterschiedliche Arbeiten, die von Entwurzelung, von Verfremdung, von Zerstörung, in gleicher Weise aber auch von neuartigen Idolisierungen oder Sakralisierungen handeln. Die Arbeiten sind in ihren medialen Formen und ästhetischen Anmutungen sehr unterschiedlich. Die einen scheinen sachlich zu sein, die anderen sinnlich opulenter, wieder andere geradezu absurd. Gerade aber weil es Kunstwerke sind, sollte man sich von der Oberfläche nicht täuschen lassen. Denn Kunstwerke beziehen die eigene äußere Erscheinungsweise bewusst in ihr Kalkül ein und operieren damit oft zu gegenteiligen Zwecken.
Peter Bösenberg sucht in den Randzonen unserer Städte die Durchdringung und Überlagerung unterschiedlicher Ordnungen auf. Wohnen, Lagern, Verwalten, Produzieren, Reparieren, Hin- und Herschaffen stoßen hier aufeinander, Gebäude, Fahrzeuge, Straßen, Plätze, Mauern, Zäune breiten sich aus, mit Personen füllen sie sich an und Leerräume, Brachen verbinden sie. Solche Randzonen weisen weder natürliche noch gewachsene Ordnungen auf. Die Veränderung von Orten erfolgt hier abrupt und gewaltsam. Ungewollt ist Dislocation Programm. Die Anarchie zwischen den verschiedenen Objekten wird zusätzlich noch überformt durch die allgemeine Mobilität und die Medialität, die in Form großer Plakatwände ungebremst auftritt und auf die die allgegenwärtigen Graffitis wie ein Gegengift wirken. Wir beruhigen uns mit der Vorstellung, dass dies alles Nebeneffekte unserer gesellschaftlichen Entwicklung sind, dass wir dies gar nicht gerne anschauen und wir solche Randzonen doch mit dem ästhetisch Schönen unserer Innenstädte oder unserer Landschaften kompensieren. Und wenn wir es dort nicht mehr finden, fahren wir in die Ferien.
Dirk Eicken befragt seit einigen Jahren die Möglichkeit, ob die großen Weltveränderungsbewegungen auch in der Malerei benennbar oder darstellbar sind. Das Internet macht uns mit Verhältnissen in der dritten Welt in Form von Fotos und kurzen Texten bekannt. Wir erfahren Namen, ohne dass wir zu den Menschen, ihren Wohnorten, ihren Lebensverhältnissen einen direkten persönlichen Kontakt haben, obwohl wir möglicherweise ihre Produkte konsumieren. Yacouba ist der Vorname eines Migranten aus Afrika, der sich irgendwann auf die Flucht in Richtung Europa begeben hat. Mit dem Verlassen seines Heimatortes hat er einerseits seine Lebensbezüge hinter sich gelassen, andererseits aber seine Religion als seinen Ankerpunkt behalten. In der Fokussierung auf seine religiöse Versenkung kreiiert er auf seinem Gebetsteppich einen neuen Ort, der von dem realen Ort seines Umraumes geschieden ist. Der Gebetsteppich scheint auf dem hellen Boden zu schweben. Die Mauer in seinem Rücken trennt ihn von der örtlichen Nachbarschaft und von seiner Vergangenheit. Sie strahlt eine gewisse Wärme ab, die nur wir als Betrachter sehen können. Der nach vorn gebeugte und leicht nach rechts gedrehte Körper weist mit dem Kopf auf eine fiktive Mitte vor dem Bild, in der wir als Betrachter stehen können. Er verweist auf unsere Verantwortung.
Luis Gordillo: Der menschliche Gesichtssinn ist der sinnliche Schöpfer sowohl unserer Vorstellung von Orten wie auch von Ordnungen. Er ermöglicht uns, die Dinge in ihrem festen Nebeneinander im Zugleich zu beobachten. Erst in unserem Sehen können wir präzise verschiedene Orte sowie verschiedene Ordnungen unterscheiden. Das Sehen setzt aber zugleich das Bewusstsein voraus, dass wir in unseren verschiedenen Wahrnehmungen identisch bleiben, dass wir unsere Wahrnehmungen nebeneinanderstellen können, um sie zu vergleichen. Was passiert aber, wenn wir uns selbst auflösen, wenn unser Wahrnehmen seine Einheit, seinen Ichpol verliert, wenn wir uns in verschiedene Pole aufspalten? Verlieren wir dann nicht grundsätzlich unseren Zugang zum Spezifischen eines Ortes bzw. einer Ordnung. Gordillos Werk beschäftigt sich mit den Gefährdungen menschlicher Einheit und den vielfältigen Formen und Farben ihres Zerbrechens.
Alex Hanimann versucht in seinen künstlerischen Arbeiten den Gebrauch unserer Sprache immer wieder mit unseren Praktiken im Umgang mit Dingen in Beziehung zu setzen. Er stöbert dabei die unterschiedlichsten Ordnungsversuche auf und konfrontiert sie mit den Aufmerksamkeitssignalen unserer Sprache und mit ihrer Tendenz auf sinnhaftes Zusammenfassen. Hierbei entstehen ihm neue Ordnungen, Scheinordnungen, die die Vergeblichkeit unserer Anstrengungen und Bemühungen um Ordnungen entlarven und die auch das Hohle unser Strukturierungen von Orten hervorkehren können. Wille, Wolke Wunsch, Wahn, Sinn: leuchtende geradlinige Univers-Buchstaben versammeln Begriffe, die wir in uns – allerdings ohne festen körperlichen Platz – und draußen im offenen Raum vage orten können. Ziehen wir Wahn und Sinn zusammen, wird damit entweder der Zustand einer Person beschrieben, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Umwelt hat, weil sie etwas für wirklich hält, was nicht existiert, oder der allgemeine Zustand einer Gesellschaft, die den Kontakt zu einer natürlichen Welt verloren hat, die mit der Wirklichkeit nicht mehr zurecht kommt.

Susanne Kutter bevorzugt für ihre künstlerischen Arbeiten das Medium Film. Sie interessiert sich für den Vorgang der Zerstörung als eines sukzessiven Prozesses, der sich in viele Einzelprozesse aufspaltet. Bei vielen Zerstörungen wird etwas nicht komplett ausgelöscht, sondern kleine oder immer stärkere Deformationen setzen einer Sache so zu, dass eine Ganzheit in neue Einzelteile zerfällt. Bei den beiden ausgestellten Arbeiten werden wir mit dem Resultat einer Zerstörung konfrontiert. Der schöne freie Fall mündet in die ihn abschließende Erschütterung im harten Aufprall, welche die ursprüngliche Ordnung in unvorhersehbarer Weise freigibt auf eine neue Fügung von Ganzem und Teilen. Die daraus resultierende scheinbare Unordnung lässt in den unterschiedlichen Ausdrucksformen der neuen kleinen Teile den Reichtum der Entfaltung der Energie des Aufpralls ahnen. Kutter lässt die Schwerkraft aber nicht in Richtung Boden, sondern jetzt in Richtung auf die Wand als einer neuen Basis wirken, zu der hin sie alles hat erstarren lassen. Die befreiende Energie der Schwerkraft ist jetzt fixiert in einer neuen, glasig erfrorenen Welt, die wie unter eine Wasseroberfläche getaucht erscheint.
Axel Lieber sucht in seinen Arbeiten immer wieder den Umkipp-Punkt, an dem etwas noch gerade ist und an dem es zugleich gerade nicht mehr zu sein scheint: Ein längeres Stück Vierkanteiche ist ein Stab. Vier Vierkantstäbe sind nichts weiter als mehrere Vierkantstäbe. Wenn diese Stäbe aber in einer bestimmten geometrischen Ordnung zueinander stehen, sind es dann immer noch bloß vier Vierkantstäbe? Müssen sich die vier Stäbe rechtwinklig berühren, um ein Kreuz zu bilden oder reicht schon die fragmentarische rechtwinklige Anordnung? Die Vierkantstäbe weisen an ihren zugewandten Innenseiten Rundungen auf. Wurde etwas weggeschnitten? Handelt es sich um ein Kreuz ohne Christus? Wurde Christus entfernt? Stellt Liebers Skulptur eine Schandtat, eine Beleidigung des Christentums dar? Entheiligt sie ein religiöses Symbol? Wann ist die Anordnung von Vierkantstäben ein reales Kreuz, wann die Fiktion eines Kreuzes, wann die Fiktion eines entfernten Christus? Ist ein Massenprodukt wie ein industriell hergestelltes Kreuz überhaupt legitimerweise ein religiöses Symbol? Wir wissen nicht, wie Christus ausgesehen hat, wir wissen nicht, was für einen Körper er gehabt hat. Ist die Visualisierung einer religiösen Vorstellung eine künstlerische Aufgabe, aus einem Stück Materie, aus Holz etwas zu machen, das uns einen empfindungsfähigen Körper sehen lässt, der zusätzlich das Ertragen eines schweren Leidens in eine Darbietung zu uns rückt? Antwortet Liebers Skulptur darauf? Ist ein Stück Holz ohne Christus nur ein Stück Holz? Kann von einem Gegenstand seine Bedeutung disloziiert werden?
Christopher Mullers Arbeiten beschäftigen sich mit dem Hereinragen des Fremden in den eigenen häuslichen Ort bzw. mit dem Sich-Bedrängenlassen oder Sich-Konfrontieren mit fremden Orten bzw. Ordnungen, in denen die eigenen Wertordnungen auf den Kopf gestellt sind. Bei Aleppo ist das die völlige Zerstörung menschlichen Lebensraumes in einem Bürgerkrieg, bei Trump das Verlassen von herkömmlichen politischen Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, das Infragestellen und die Auflösung von Beziehungen mit ehemaligen politischen Partnern und die neuartige Ablehnung medialer Kontrolle und medialer Urteile über das eigene politische Handeln. Der Fernseher oder die Printmedien tragen diese Zerstörungen zu uns in den eigenen Lebensraum, in die eigene Wohnung und platzieren sich dort. Beide Aquarell-Arbeiten sind im Zusammenhang mit Mullers Projekt der Erforschung seines unmittelbaren Nahraumes in seiner lebensweltlichen Umgebung entstanden: in der Ruhe des abgeschirmten privaten Umfeldes seismographisch die Erschütterungen zu registrieren, die unsere Welt jenseits des jeweiligen beschränkten Ortes durchziehen. (Vollständige TV-Bildunterschrift: Donald Trump: „Hillary Clinton lacks the mental and physical stamina to defeat so called Islamic State“)
Björn Sieberts Foto ist ein Remake, d. h. das mit einer Großbildkamera aufgenommene Foto von einer Situation, die der Künstler selbst hergestellt hat als Nachbildung der Situation eines im Internet gefundenen Bildes. Weder den Ort, noch das Jahr des ursprünglichen Bildes konnte er herausfinden. Wahrscheinlich geht das Motiv auf keltische Praktiken in der Erstellung von Wunschbäumen zurück und wird sich in Irland oder Schottland ereignet haben. An solche Wunschbäume werden persönliche Gegenstände angeheftet. Der Inhalt des Wunsches hat nichts mit dem Ort des Baumes zu tun und steht auch nicht mit dem Lebensort des Wünschenden in einer Verbindung. An ihm versammeln sich die unterschiedlichsten Wünsche und Personen. Auch die Gegenstände, die sich als Stellvertreter für den Wunsch versammeln, sind sehr verschieden. Und es ist wahrscheinlich, dass gar nicht alle Gegenstände einen Wunsch repräsentieren, sondern aus unterschiedlichen Dekorationsvorstellungen hinzugefügt wurden. Von den einen wird der Wunschbaum als ritualisierte Erinnerungsfeier, Opfergabe und Weihestätte einer persönlichen Vorstellung, die sich nicht weiter zu erkennen gibt, von anderen als Müllplatz angesehen werden. Beide Ausdeutungen beziehen sich darauf, dass der ursprünglichen Ordnung der Natur eine offene Un-Ordnung hinzugefügt wurde.
Markus Willeke hat in seiner fluiden Malerei ein besonderes Sensorium für das Einfangen des Flüchtigen und des Entschwindens des Augenblicks entwickelt. Unsere Welt besteht ja immer weniger aus stabilen Objekten und Ordnungen, die konstant an ihrem Ort bleiben. Nicht nur die Mobilität, auch die allgemeine Änderung der Verhältnisse nimmt zu. Wir bevölkern unser Universum zusätzlich mit immer mehr Ereignissen, die in unserer Realität kaum noch eine Dauer haben, die auf schnelle Vergänglichkeit angelegt sind und die nur in unserer Erinnerung als intensive Eindrücke nachwirken. So kann es dazu kommen, dass die Realität selbst unsichtbar wird und nur ein flüchtiges Bild ihre Eindrücklichkeit für uns trägt: Die Virtualität wird mächtiger als die Realität, das nicht Existente, das auf dem Kopf stehende Spiegelbild eindrücklicher als die reale Person an einem realen Ort.

Installation Views

 

Installationviews Hengesbach Gallery, 2017